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nmz-archiv
nmz 2005/05 | Seite 9
54. Jahrgang | Mai
Pädagogik
Alter Wein in alten Schläuchen
Kommentar II zur Studie der Initiative „Bildung der Persönlichkeit“
· Von Jürgen Vogt
Der Begriff Persönlichkeit, so befand Theodor W. Adorno schon
1966 in seiner „Glosse über Persönlichkeit“,
ist nicht mehr zu retten. Ursprünglich als Abstraktum formuliert,
in dem der Begriff der Menschheit als Ideal mitschwingt, wurde er
auf Individuen übertragen, die nun nicht mehr Persönlichkeit
haben, sondern angeblich unmittelbar sind. Damit wird der Begriff
aber gründlich entwertet: Die starken, mächtigen, gewieften,
erfolgreichen „Persönlichkeiten“ haben in der Regel
nichts mehr mit dem Gebildeten im Sinne Humboldts zu tun, dessen
Aufgabe es noch war, ‚soviel Welt als möglich zu ergreifen,
und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden’. Die Flexiblen,
Dynamischen, Belastbaren, Teamfähigen, die gleichzeitig ein
vorbildliches Familienleben führen, womöglich Kammermusik
betreiben oder mindestens ein Konzertabonnement besitzen, und dabei
in aller Welt präsent sind und die Konkurrenz kreativ an die
Wand und in die Knie drücken – wie immer man sie nennen
mag: „Persönlichkeiten“ im humboldtschen Sinne
sind sie in der Regel nicht, eher noch deren Karikaturen.
Angesichts einer solchen Diagnose muss es Aufmerksamkeit erregen,
wenn die „Initiative ,Bildung der Persönlichkeit’“
unter der Schirmherrschaft der Konrad-Adenauer-Stiftung eine „Renaissance
der Persönlichkeitsbildung“ fordert, und zu diesem Zweck
eine „Bildungsoffensive durch Neuorientierung des Musikunterrichts“
startet. Man muss sich fragen, welchen Beitrag denn ausgerechnet
der Musikunterricht zu einem solchen Vorhaben leisten soll, hat
doch die Musikpädagogik genug damit zu tun, ganz elementare
Begriffe wie diejenigen des Musiklernens oder der musikalischen
Erfahrung zu klären, oder deren Vorkommen beziehungsweise Nicht-Vorkommen
in der Praxis des Musikunterrichts empirisch zu untersuchen, ohne
dass damit die Stratosphärenhöhe der „Persönlichkeitsbildung“
überhaupt schon berührt wäre. Wer sich nun vom Papier
der Adenauer-Stiftung eine Klärung dieser Fragen erwartet hätte,
sieht sich leider enttäuscht. Was der Leser vorfindet, ist
vielmehr ein Konglomerat unterschiedlichster Begriffs- und Theoriebestände,
zusammengefügt mit einer verheerenden Logik. Keinem Studenten
im Grundstudium würde man einen solch schlampig formulierten
Text als Seminararbeit durchgehen lassen, und die kläglichen
Wortspiele („,Outfit’ statt ‚Input’ ist
aber zu wenig“, S.12) machen das Ganze auch nicht gerade ertragreicher.
Sinnvoller als die Auseinandersetzung mit den im Papier vorgebrachten
Pseudoargumenten ist dagegen ein Blick auf das Schwert, das als
Waffe für die „Bildungsoffensive“ (,Offensive’,
laut Duden ursprünglich „planmäßiger Angriff
einer Heeresgruppe“) geschmiedet wurde: Der musikalische Bildungskanon.
In diesem, so die im Übrigen anonymen Autoren, sollen „typische,
exemplarische und überzeitliche Werke“ (S.12) versammelt
werden, durch deren Kenntnis „kulturelle Identität und
Kommunikation“ (ebd.), in der verquasten Terminologie des
Papiers mithin „Bildung der Persönlichkeit“, überhaupt
erst möglich sein sollen. Die – um im militärischen
Jargon zu bleiben – musikpädagogische Frontlinie ist
dabei klar gezogen: Der Feind steht überall dort, wo nicht
„zur Geschmacksbildung beigetragen wird“ (S.4), was
hier heißt: „anspruchsvolle und anspruchslose Musik“
unterscheiden zu lernen (ebd.). Weiterhin ist er dort zu vermuten,
wo es primär um formale Bildung geht, also um die Fähigkeiten,
die Individuen durch die Auseinandersetzung mit vielfältigen
Musik(en) erwerben – obwohl diese, vor allem auch fachübergreifende
Fähigkeiten und Transfereffekte, natürlich rhetorisch
auch gleich großzügig mit einkassiert werden. Und schließlich
steht der Feind vor allem dort, wo die subjektiven Schülerinteressen
zu vermuten sind; die Idee, dass es sich beim Verhältnis von
„objektiver Analyse“ und „subjektivem Musikempfinden“
(S.4) nicht um ein schiedlich-friedliches Komplementärverhältnis
(ebd.), sondern um eine dialektische Spannung handeln könnte,
kommt den Autoren erst gar nicht.
Stattdessen findet sich im vorgeschlagenen Kanon fast alles wieder,
was im Unterricht an Musikwerken angeblich sowieso schon „geht“,
vom „Zauberlehrling“ über die „Moldau“
bis hin zum „Continuum“, ohne dass die Exemplarizität
der Werke oder gar ihre Bildungsrelevanz offensichtlich noch einer
besonderen Begründung bedürfte. Dass für die vor-barocke
Musik ebenso wie im Bereich Pop und Jazz gar keine „Werke“
genannt werden, sondern Komponisten beziehungsweise Interpreten,
sei dabei als Kuriosum nur am Rande erwähnt; in einem konsequenten
Werk-Kanon hätten all diese Musiken gar nichts zu suchen.
Der Versuchung, sich über solche Kanons lustig zu machen,
ist natürlich schwer zu widerstehen: Dass A. Lloyd-Webber zu
den kanonischen Komponisten der „E-Musik“ des 20. Jahrhunderts
zählen soll, ist sicher ebenso drollig, wie die Zuordnung des
im Übrigen unschätzbaren H. Mancini zur Kategorie „Jazz“.
Und was ausgerechnet die Scorpions zur Persönlichkeitsbildung
beitragen sollten, wird vermutlich auf ewig das Geheimnis der Autoren
bleiben. Weitaus weniger zur Erheiterung des Lesers trägt jedoch
eine andere Konstruktion bei: Der Kanon ist, wie die Autoren formulieren,
„schulformspezifisch differenziert; er gilt in Gänze
für das Gymnasium inklusive Oberstufe“ (S. 12). Für
die Hauptschule ist lediglich ein „Basiskanon“ vorgesehen,
der für die Realschule bestimmte „Ergänzungen“
erfährt. Damit ist die Katze aus dem Sack. Ganz abgesehen davon,
dass ein „offener Kanon“ (S.12) wohl einem hölzernen
Eisen gleicht: Der Anspruch des Papiers, mittels eines Kanons „kulturelle
Identität und Kommunikation“ herzustellen, führt
sich selbst ad absurdum, wenn diese Identität schulform-, und
damit wohl in Deutschland nach wie vor auch schichtenspezifisch
differenziert ist; und Kommunikation – worüber und warum
eigentlich? – ist dann idealiter zwischen einem Hauptschüler,
der musikalisches „Grundwissen und Fachterminologie“
(S.12) anhand der „West Side Story“, Reichs „Drumming“
und Metallica erworben hat, und einem Gymnasiasten, dessen „Persönlichkeit“
durch Pendereckis „Lukaspassion“, Riehms „Erscheinung“
und J. Cocker geschult wurde, nur noch sehr eingeschränkt möglich.
Was, so muss gefragt werden, ist das eigentlich für eine „Persönlichkeit“,
die an einem solchen Kanon entwickelt werden soll? Die Antwort fällt
nicht schwer. Es ist, schlicht gesagt, der typische Schwanitz-Bildungsbürger,
der über Perotin, Monteverdi und Hindemith ebenso versiert
wie oberflächlich unter seinesgleichen zu parlieren versteht,
wie über Pärt, Ch. Parker und B. Dylan, ohne dass dabei
natürlich die Geschäfte irgendwie gestört würden.
Die bedauernswerten Hauptschüler müssen – offensichtlich
wohl aufgrund nicht nur zeitlicher, sondern auch intellektueller
Beschränkungen – mit Charpentier, Vivaldi, Elvis und
Glenn Miller vorlieb nehmen. Dies ist nicht nur grotesk, sondern
vor allem auch ärgerlich, bedenkt man, wie schamlos sich die
Autoren dabei im Begriffsarsenal ganz anders begründeter und
wesentlich gehaltvollerer musikpädagogischer Theorien bedienen,
um mit Scheinargumenten einen Ansatz zur „Neuorientierung
(!) des Musikunterrichts“ propagieren, der gesellschafts-
und kulturpolitisch, musikwissenschaftlich und musikpädagogisch
nicht anders als reaktionär zu bezeichnen ist – denn
wer wollte etwa der im Papier erhobenen Forderung widersprechen,
dass die Rahmenbedingungen für musikalische Bildung verbessert
werden müssen (S. 5)?
Am Begriff Persönlichkeit, so noch einmal Adorno, ist jedoch
selbst im Zeitalter seiner Liquidation etwas zu bewahren, nämlich
„die Kraft des Einzelnen, nicht dem blind über ihn Ergehenden
sich anzuvertrauen, ebenso blind ihm sich gleichzumachen“.
In diesem Sinne verstanden sei allen Bildungspolitikern und Musikpädagogen
gewünscht, sie seien angesichts solcher Zumutungen musikpädagogischer
Restauration Persönlichkeit genug, sich ebenso zu verhalten,
wie in dem von Adorno zitierten Hölderlin-Satz gefordert: „Drum,
so wandle nur wehrlos/ Fort durchs Leben, und fürchte nichts!“.