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nmz-archiv
nmz 2005/05 | Seite 13-14
54. Jahrgang | Mai
Pädagogik
Einfach auch einmal nur für mich spielen
Ein Weg zur Klassik in der Schulmusik · Von Nicolai Petrat
Am 5. November 2004 fand an der Hochschule für Musik und Theater
Rostock ein Symposium zum Thema „Motivation zur Klassik“
statt. Im Vordergrund stand die Frage, wie Schüler im Musikunterricht
an allgemein bildenden Schulen wieder mehr an die klassische Musik
herangeführt werden können. Der folgende Beitrag ist die
verkürzte Fassung des Referates von Nicolai Petrat.
Beim Stichwort „Klassik“ stößt man bei den
meisten Schülern in den allgemein bildenden Schulen auf taube
Ohren. Das Fach Musik wird in den Schulen am liebsten abgewählt.
„Klassik pur“ existiert bei vielen gar nicht. Ästhetische
Erfahrungen mit klassischer Musik werden immer seltener. Viele Kinder
erfahren klassische Musik höchstens in arrangierter Form oder
als akustischen Hintergrund in bunten Zeichentrickfilmen, Werbemedien,
vereinzelten Computerspielen oder in Kaufhäusern, zumeist elektronisch
verzerrt als Soundeffekt und in kurzen Sequenzen. Bach, Mozart,
und Beethoven gehen mehr und mehr in Vermittlungsformen des Pop
auf, nach dem Motto „Classic goes Pop“. Selbst diejenigen
Kinder und Jugendlichen, die selber aktiv Musik machen, orientieren
sich bei ihren Musizierwünschen eher an Popmusiktiteln als
an klassischen Werken.
Aber haben die meisten Kinder wirklich eine Aversion gegen Klassik?
Oder mangelt es einfach nur an einem Musikunterricht mit wirklich
schülerorientierten ästhetischen Erfahrungsgelegenheiten
mit klassischer Musik? Anders gefragt: Warum machen die Kinder,
die in ihrer Freizeit an einer Musikschule ein Musikinstrument erlernen,
gerne (auch) klassische Musik? Also: Welche musikalischen Ambitionen
und Ziele haben diese Kinder? Welche ästhetischen Erfahrungen
machen Kinder, wenn sie auf ihren Instrumenten klassische Musik
machen? Worin liegt für Kinder der besondere ästhetische
Reiz, sich mit klassischer Musik zu beschäftigen?
Anhand einer Befragung, die ich kürzlich an 1081 Musikschülern
des Landes Mecklenburg-Vorpommern durchgeführt habe, bin ich
mancher Perspektive näher auf die Spur gekommen. Von den befragten
Kindern und Jugendlichen sind es immerhin 35 Prozent, die eine Vorliebe
ausdrücklich für die bewussten klassischen Komponisten
(Bach/Mozart/Beethoven et cetera) haben und von sich aus gern klassische
Musik machen, ohne von ihren Eltern ausdrücklich zum Üben
angehalten werden zu müssen. Zwei Motive stehen bei diesen
Schülern im Vordergrund: mit anderen zusammen Musik machen
und auf seinem Instrument etwas leisten. Konkret: möglichst
bald im Ensemble oder Klassenorchester mitspielen können, das
Lieblingsstück bald hinbekommen, sich gern auch einmal mit
einem schwierigeren Werk auseinandersetzen, gerne einmal ihr Werk
vor anderen vorspielen oder sogar beim Wettbewerb mitmachen. Es
fällt auf, dass gerade die jüngeren Schüler hier
noch recht leistungsorientiert sind. Für die meisten liegt
der besondere Anreiz im Erlebnis von etwas selbst Gemachtem, selbst
Produziertem sowie der Perspektive, mit ihrem Musikinstrument Melodien
spielen zu können, die sie bereits kennen oder die irgendwie
klassisch nach Mozart oder Beethoven klingen.
Verglichen mit den älteren Schülern verlagert sich bei
Jugendlichen die Ambition zum Musikmachen vom Leistungsaspekt im
Grundschulalter zur gefühlsmäßigen Identifikation
mit klassischer Musik. Da steht dann eine individuelle Selbsterfahrung
im Vordergrund, beispielsweise mit folgenden Ambitionen:
„Weg vom Alltag, mir selbst Freude bereiten und meine Musik
genießen“ (15 J. w);
„Etwas für mich haben, worauf ich stolz sein kann“
(13 J., m);
„Einen Ausgleich zum Alltag finden und Emotionen freien
Lauf lassen“ (16 J., w);
„Klassische Musik machen als Zeitvertreib, der Freude macht
und bei dem man abschalten kann“ (14 J., m);
„Einfach einmal nur für mich spielen“ (15 J.,
w).
In dem „einfach einmal nur für mich spielen“
steckt eine ganz besondere Perspektive. Denn offenbar muss es nämlich
gar nicht immer nur das Zusammenspiel mit anderen sein. „Klassik-Kinder“
unterscheiden sich von den übrigen auch dadurch, dass sie eher
auch einmal für sich allein spielen wollen; dieser Aspekt wurde
bei dieser Schülerbefragung übrigens auffallend häufig
genannt. Die bewusste „Einzelhaft am Klavier“ hat so
gesehen sogar etwas positives: als Möglichkeit, von der Musik
ganz gefangen genommen zu werden – und zwar von der Klassischen
beziehungsweise einer besonderen Ästhetik des Klassischen in
der Musik. Gerade hier scheint etwas besonders Schönes sehr
subjektiv erfahrbar zu werden.
Ästhetische Erfahrungen sind bekanntlich etwas sehr subjektives,
und es ist schwierig, sie in angemessene Worte zu fassen. Ein „Das
klingt ja schön“ drückt häufig schon viel aus,
um das wiederzugeben, was ästhetisch beim eigenen Musikmachen
im Schüler oder in uns vorgeht. Jedenfalls können wir
davon ausgehen, dass jeder bei entsprechenden Erlebnissen auf seine
individuelle Weise etwas Musikalisch-Schönes entdeckt. Jeder
spürt und empfindet etwas anderes als „schön“,
und das ist doch gerade der besondere ästhetische Anreiz gerade
auch der klassischen Musik. Es sind Erfahrungen, die wir häufig
in ihrem vollen Ausmaß gar nicht mitbekommen. Sie spielen
sich bei Kindern innerlich ab und sind bekanntlich für uns
Außenstehende gar nicht immer gleich herauszuhören. Da
können wir – genau genommen – von außen nur
beobachten und uns manche Dimension erschließen, wie in meiner
Studie beispielsweise anhand eines Fragebogens.
Welche ästhetischen Erfahrungen sind es nun aber, die hier
erlebbar werden? Welche können wir von außen beobachten?
Schon die Wahl des Instrumentes hat eine besondere ästhetische
Qualität. Das scheinen Kinder intuitiv zu spüren, wenn
sie sich für ein ganz bestimmtes Instrument entscheiden. Das
eine Kind hat eher eine Neigung zu großen, zupackenden Bewegungen,
das andere eher zu zarten und behutsamen. Es wäre sicher falsch
und zu oberflächlich, in diesen Spielbewegungen nur etwas Motorisches
zu sehen. Hier sind auch Gesten mit im Spiel, die mit Ausdruck besetzt
werden: Das Halten, Ansetzen und Anblasen einer Trompete drückt
eine andere Befindlichkeit aus als das Streichen der Saite eines
Cellos mit dem Bogen. Instinktiv spürt jedes Kind offensichtlich
die Ausdrucksmöglichkeiten, die in einem Musikinstrument stecken
und zu einem intensiveren Musikerlebnis führen. Nach meiner
Befragung stehen hier der Klang, Präferenzen für Gefühlbetontes,
ein gewisses körperliches Spüren und die Spielart im Vordergrund,
aber weniger das Aussehen! Das heißt, es ist ja auch einleuchtend,
dass das Zupfen eine ganz andere Bewegungsqualität hat als
beispielsweise das Streichen, Schlagen oder Blasen.
Das Musikmachen wird bei vielen zu einem Medium ganz besonderer
Selbstwahrnehmung. Dabei treten ganz verschiedene (elementare) Lebenserfahrungen
auf künstlerische Weise zutage beziehungsweise werden in klassische
Musik hineinprojiziert: „Manchmal entspannt mich die Musik
vom Alltagsstress“ (16 J. w). „Musikmachen ist für
mich ein Erlebnis von Freiraum“ (12 J., m). „Das Üben
an meiner Etüde ist manchmal auch Arbeit an mir selbst“
(17 J., w).
Elemente des Zeitlosen treten hervor: „In solchen Momenten
finde ich mich selbst in der Musik und schwebe in meinen Tönen
davon“ (13 J., m)
Es werden ganz besondere individuelle Erfahrungsdimensionen erschlossen,
die von Anfang an in uns angelegt sind und über die klassische
Musik in uns ausgeformt oder quasi bestätigt werden. Da werden
Lebensmomente intensiviert, die uns ein besonderes Gefühl von
Geborgenheit und seelischer Ausgeglichenheit vermitteln: „Da
wird in mir auf einmal ein herrliches Lebensgefühl wach“
(15 J., m). „Wenn ich eine halbe Stunde geübt habe, fühle
ich mich manchmal hinterher richtig gut“(11 J., w). „Mein
Instrument gibt mir manchmal Trost“ (14 J., w.).
All diese Dimensionen finden – und das sei noch einmal ausdrücklich
betont – auf der Ebene ästhetischer Erfahrungen statt
und treten bei den „Klassik-Kindern“ sogar verstärkt
hervor (siehe Graphik), werden in der Klassik intensiver erlebt.
Konkret finden diese Erfahrungen im Hinblick auf Klangliches, Gefühlvolles
und körperliches Spüren statt. Ebenso machen sie sich
im Zusammenhang mit der „Gänsehaut“ bemerkbar,
wenn es besonders schön klingt. Bemerkenswerter Weise scheint
Musik Kindern, die selbst Musik machen, besonders unter die Haut
zu gehen, wenn es klassische Musik ist; zumindest liegen die Werte
hier überall höher.
Wenn nach meiner Studie nur 3,1 Prozent der Schüler vom Musikunterricht
an den allgemein bildenden Schulen inspiriert werden, ein Musikinstrument
zu erlernen, dann besteht meiner Ansicht nach großer Handlungsbedarf.
Zumindest muss der Musikunterricht an Schulen so optimiert werden,
dass sich künftig mehr Kinder und Jugendliche auch für
klassische Musik interessieren und damit etwas anfangen können.
Ein Zauberwort ist ganz sicher das in vielen Schulen praktizierte
„Klassenmusizieren“. Es trifft den Nerv vieler Schüler,
selbst einmal Musik machen zu können. Hierin sehe ich auch
weiterhin eine große Chance.
Ich denke aber, dass hier konzeptionell noch manches verfeinert
und überdacht werden kann: Für viele Kinder ist es sicher
eine ganz besondere Erfahrung, ab und zu einmal im Klassenverband
Musik zu machen. Wenn Schüler sich überhaupt positiv zum
Musikunterricht äußern, dann ist neben dem Singen von
bekannten Liedern (am besten aus dem Popularbereich) vor allem das
Klassenmusizieren auch nach anderen Befragungen sehr beliebt.
Allerdings sollte hier nicht (nur) der Aktionismus im Vordergrund
stehen. Den Weg zur Klassik kann man nur finden, – und das
bestätigt meine Studie – wenn man Klassik auch einmal
nur für sich allein erleben darf. Mit anderen Worten: Kindern
sollte auch Gelegenheit gegeben werden, sich innerlich besser auf
die Besonderheit des Instrumentes und damit auch ästhetischer
Dimensionen im Klassischen einstellen zu können. In der Musikschule
haben schon viele Kinder über das „Instrumentenkarussell“
den Weg zur klassischen Musik gefunden. Dort lernen sie im Rotationsverfahren
nacheinander verschiedene Instrumente kennen und sammeln über
den schulischen Musikunterricht hinaus auch zu Hause damit ihre
Erfahrungen.
Gerade in dieser Abgeschiedenheit besteht Gelegenheit, sich in jenes
„Schöne“ hinein zu vertiefen oder zumindest Schönes
entstehen zu lassen. Vielleicht ist dies auch ein Modell für
künftigen Musikunterricht in der allgemein bildenden Schule.