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nmz-archiv
nmz 2005/05 | Seite 42
54. Jahrgang | Mai
Bücher
Aufklärungsarbeit in Sachen Musiksoziologie
Max Webers Studie verdichtet aktuelle Kenntnisse der Diszplinen
Max Weber: Musiksoziologie, Nachlass
1921, hrsg. von Ch. Braun und L. Finscher (Max Weber-Gesamtausgabe
I/14), Mohr Siebeck, Tübingen 2004, 446 S., € 149,00,
ISBN 3-1614-6956-9
Theodor W. Adorno verwies 1958 in seinen „Ideen zur Musiksoziologie“
auf eine Arbeit Max Webers mit den Worten, dieser sei der „Autor
des bislang umfassendsten und anspruchsvollsten Entwurfes einer
Musiksoziologie“. Diese Arbeit Webers kursierte damals unter
dem Titel „Die rationalen und soziologischen Grundlagen der
Musik“ an eher versteckten Stellen im Werk Webers. Jetzt,
mit dem Band I/14 der Max Weber-Gesamtausgabe erhält es einen
würdigen Platz. Und zwar kurioserweise unter dem Titel „Zur
Musiksoziologie“, den Weber selbst als Arbeitstitel gewählt
hatte, obwohl es eher um die „rationalen Grundlagen“
der Musik im Abendland geht. Diese Schrift Webers ist nie im eigentlichen
Sinn vollendet worden, weist aber dem Umfang und den Themen nach
den Charakter eines riesigen Fragmentes auf. Es stammt aus der Zeit
von 1910 bis 1920. Jeder, der sich einmal mit Musiksoziologie beschäftigt
hat, kennt es. Aber dieser Aufsatz ist alles andere denn eine vergnügliche
Lektüre. Der Text ist sperriger als andere Texte Webers, denn
er befasst sich ganz unmittelbar und langwierig zu Beginn mit verschiedenen
Tonsystemen, ohne dass man ahnen könnte, welche Absicht damit
verfolgt wird. Erst ganz langsam, beinahe vorsichtig führt
Weber zum Gedanken einer „rationalen Weltauffassung“
– eben auch in der Musik des Abendlandes.
Was diesen Band der Weber-Gesamtausgabe vor allen Dingen auszeichnet,
ist der zum wesentlichen Teil von Christoph Braun verfasste Herausgebertext.
Auf über 120 Druckseiten hat er den zahlreichen persönlichen
und wissenschaftsgeschichtlichen Bezügen der Arbeit Webers
nachgespürt. Braun umkreist nicht nur diejenige Musik, die
Max Weber selbst kannte, er erinnert nicht nur an viele Gesprächsrunden
im Hause Weber zum Thema Musiksoziologie. Nein, er ordnet Weber
ein in die damaligen Entwicklungen von Kulturtheorien und das entstehende
Feld der Musikgeschichte (Adler und Riemann), -ethnologie (Hornbostel,
Stumpf) und -theorie (Helmholtz, Stumpf, Chladni) ein. Weber (von
Hause eben nicht Musikwissenschaftler) ist mit dieser Schrift wirklich
gelungen, zwischen den zum Teil sich anfeindenden Teildisziplinen
des wissenschaftlichen Umgangs mit Musik einen Entwurf historischer
Bedingungen von Musik im Abendland herauszuarbeiten.
Max Webers Studie zur Musiksoziologie verdichtet die aktuellen
Kenntnisse der verschiedenen Disziplinen und wirft ihre Resultate
im Rahmen einer umfassenderen Kultursoziologie zusammen. Er verengte
nicht den Blick durch vorurteilsbehaftete Ausgrenzung und gelangte
darum zu seiner facetten- und kenntnisreichen Untersuchung zur Musik(-geschichte?,
-soziologie?). Anders als beispielsweise in dem umfangreichen Musikteil
von „Geist der Utopie“ von Ernst Bloch (1918), der zeitweilig
dem Heidelberger Kreis um Weber angehört hat, bleiben simple
Analogien zwischen Kunst und Gesellschaft aus; es sei denn „richtige“,
wie bei der Entwicklung im Instrumentenbau, beispielsweise der Benennung
des modernen Klaviers als eines „bürgerlichen Möbels.“
Dank Brauns Recherchen weiß man auch, dass Weber hierbei Oskar
Bie zitiert. Ein weiteres Beispiel: Weber erklärt die verschiedenen
Entwicklungen der Klavierliteratur zum Beispiel auch klimatisch:
„Träger der Klavierkultur sind daher nicht zufällig
die nordischen Völker, deren Leben schon rein klimatisch hausgebunden
und um das ,Heim’ zentriert ist, im Gegensatz zum Süden.“
Ein solches Denken reflektiert genau die Fragestellung, die Weber
in seiner Vorbemerkung zu seinen religionssoziologischen Schriften
präzise formulierte: „Das musikalische Gehör war
bei anderen Völkern anscheinend eher feiner entwickelt als
heute bei uns; jedenfalls nicht minder fein. Polyphonie verschiedener
Art war weithin über die Erde verbreitet, Zusammenwirken einer
Mehrheit von Instrumenten und auch das Diskantieren findet sich
anderwärts. Alle unsere rationalen Tonintervalle waren auch
anderwärts berechnet und bekannt. Aber rationale harmonische
Musik […] dies alles gab es nur im Okzident.“ Max Weber
fragt ganz einfach: „Wieso hier?“ Und seine Antwort
ist seine Arbeit „Zur Musiksoziologie“.
Der Herausgeber Christoph Braun hat so ziemlich alle Beziehungen
akribisch notiert und auch durch Fußnoten im Weberschen Text
kenntlich gemacht. Sein Text allein schon lohnt die Lektüre,
er zeichnet die spannende und teils unorthodoxe Entwicklung des
sich seiner Wissenschaftlichkeit versichernden Fachs „Musikwissenschaft“.
Nicht missen möchte man auch den Anhang. Er besteht aus einem
umfassenden Personenverzeichnis, einem ausgezeichneten, ja geradezu
lexikalischem Glossar und einem Personen- wie Sachregister samt
Textseitenkonkordanz. Alles in allem, ein Standardwerk musik- und
kulturwissenschaftlicher Forschung.