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nmz-archiv
nmz 2005/05 | Seite 37
54. Jahrgang | Mai
Rezensionen
Drei Jahre üben waren genug
Erste Aufnahmen des 17-jährigen Friedrich Gulda bei Decca
Die Phonoindustrie, Abteilung Klassik, schrumpft sich gesund.
Wozu alles zum x-ten mal neu aufnehmen? Beethoven, Bach, Brahms
– lagert das nicht alles in hochwertigen Aufnahmen im Keller?
Es stellt sich nur noch die Frage, wie man Altes am wirkungsvollsten
neu vermarktet. Die Moderne des 20. Jahrhunderts verschaffte der
Schallplattenindustrie zudem eine anspruchsvolle und notwendige
Aufgabe als Vermittler. Und bei all dem Stöbern in alten Plattenschränken
und Master-Bänder-Regalen kann geschehen, wovon der folgende
Artikel handelt. Ein enagagierter Product Manager entdeckte verloren
gegangene Schätze. „Friedrich Gulda – The First
Recordings“ werden Anfang Mai bei Decca erscheinen. Es ist
ein Album mit bisher auf LP und CD unveröffentlichten Aufnahmen
des genialen Beethoven-, Bach- und Mozartinterpreten aus den Jahren
1947 bis 1949.
Mit 17 ein Genie –
was macht man dann den Rest des Lebens? Foto: unbekannt
Pünktlich zum 75. Geburtstag Friedrich Guldas (16. Mai 1930
– 27. Januar 2000) nun also Aufnahmen des Frühvollendeten
für die Decca, die noch vor seiner ersten Einspielung aller
Beethoven-Klaviersonaten zwischen 1949 und 1958 entstanden. Die
First Recordings bieten die einzigartige Möglichkeit, den damals
Siebzehnjährigen mit einem für ihn typischen Programm
zu hören: J.S. Bach mit „Präludium und Fuge G-Dur
BWV 860“, zwei Menuette sowie die Fuge aus „Toccata
und Fuge in c-MolI“. Von Beethoven nahm Gulda die „Bagatelle
B-Dur op. 119, Nr.11“ und „Sechs Ecossaisen Es-Dur WoO
83“ auf. Es folgen von Frédéric Chopin die „Berceuse
Des-Dur“, die Etüden „As-Dur“ und „f-Moll“
sowie die „Ballade Nr. 3, As-Dur“.
Einzigartig ist die Aufnahme von Sergej Prokofieffs „Klaviersonate
Nr. 7 B-Dur op. 83“. Es existiert keine weitere Prokofieff-Einspielung
Guldas, obwohl er dessen Werke in den ersten Jahren seiner Karriere
häufig spielte, später dagegen nicht mehr. Zeit seines
Lebens dagegen begleiteten ihn die Werke Debussys und Mozarts. Das
First-Recordings-Album enthält auch Debussys „L’isle
joyeuse“ und „Reflets dans l’eau“ sowie
die „Klaviersonate D-Dur“ von Wolfgang Amadeus Mozart.
Auf The First Recordings spielt Gulda Teile seiner Programme,
wie er sie bei zahlreichen Konzerttourneen durch die Schweiz, Österreich,
Tschechoslowakei, Ungarn, Luxemburg, Italien und auch durch Deutschland
gestaltete. Noch war er nicht zu den legendären Südamerikatourneen
aufgebrochen, die seinen Weltruhm be- gründeten.
Auch wenn der Pianist damals gerade 17 Jahre jung war, alles auf
dieser CD klingt nach Gulda. Alles ist schon da: seine unnachahmliche
rhythmische Präzision, seine packende Verve, kombiniert mit
delikatestem Anschlag und feinsten Nuancierungen. Er spielt die
Komponisten, die er Zeit seines Lebens hauptsächlich spielte:
Bach, Mozart, Beethoven, auch Debussy. Dass die Prokofieff-Sonate
Nr. 7 mit dabei ist, scheint dennoch passend. Erinnert sie doch
in ihren Ostinati und dem etwas stereotypen Klang an den Dualismus
Klassik-Jazz, oder Klassik-Techno, in Guldas Leben. Seine eigenen
Werke, insbesondere die jazzigen Fingerfertigkeiten „Play,
Piano, Play“ kommen einem bei diesem Prokofieff in den Sinn.
Die Moderne, der Gulda – für den Harmonie, Melodie und
Rhythmus als die zentralen Parameter jeglicher ernst zu nehmender
Musik notwendig erschienen – skeptisch gegenüberstand,
ersetzte er in seinen Programmen durch seine eigenen Kom-positionen.
Und zwar ohne jede Angst, sich dadurch zu kompromittieren, wie dies
eine Generation früher etwa ein Artur Schnabel fürchtete,
der Eigenes niemals selbst aufführte.
Ohne hier auf Tempi oder Verzierungen im Einzelnen eingehen zu
wollen: Hört man Guldas Aufnahme der Mozart-Klaviersonate D-Dur,
KV 576 von Anfang Dezember 1948 und vergleicht sie mit der Einspielung
für die Deutsche Grammophon im Jahr 1990, dann sind Unterschiede
bestenfalls im Detail hörbar. Gulda ist sich in diesen vier
Jahrzehnten treu geblieben.
Dem Pianisten wird der Satz zugeschrieben, er habe eigentlich „nur
zwischen seinem 13. und 16. Lebensjahr geübt“. Dass er
mit 17 vollendet war, belegen jedenfalls diese Aufnahmen aus den
Londoner Decca-Studios. Diese Frühvollendung mag auch als Erklärung
für viele von Guldas Eskapaden und „Verrücktheiten“
dienen. Einer, der mit 17 alles kann, der braucht künstlerische
Ventile, der muss sich paradoxerweise über sein geniales Klavierspiel
hinaus kreativ betätigen.
Am Beispiel von Guldas First Recordings lässt sich erahnen,
dass Schätze in den Archiven der Schallplattenfirmen schlummern.
Doch so leicht sind diese Schätze nicht zu heben. Oft fehlen
die Experten, die sich überhaupt noch auskennen im großen
Bestand der Preziosen.
Die First Recordings entdeckte Product Manager Oliver Wazola im
Plattenschrank von Guldas Nachlassverwalterin Ursula Anders –
Guldas zweiter Sohn, Paul Gulda, hatte sie ihr fürs Archiv
zur Verfügung gestellt. Bevor man aber irgendetwas anhören
konnte, waren die Tontechniker gefragt – und zwar welche mit
Erfahrung. Denn die vorliegenden Aufnahmen wurden zwar Ende der
vierziger Jahre bereits auf Vinyl produziert, jedoch noch in der
Größe von Schellackplatten. Sie mussten mit 78 Umdrehungen
pro Minute abgespielt werden.
Wer konnte überhaupt noch mit dieser Technologie umgehen?
Durch jedes Abspielen veränderte sich die Größe
der Rille. Für eine neue, wenig gespielte Platte benötigte
man eine kleine Nadel. War die Scheibe oft abgespielt, brauchte
man eine dickere, um zu guten Ergebnissen zu kommen. Bob Jones,
der ehemalige Decca-Chef-Remasterer, musste für diese spezielle
Herausforderung reaktiviert werden. Dann setzte sich noch ein zweiter
Spezialist, Willem Makkee, der in den Emil Berliner Studios unter
anderem die Edition „Swinging Ballroom Berlin“ remastered
hatte, mit Friedrich Guldas ersten Einspielungen auseinander.
Die Ergebnisse zeigen, es hat sich gelohnt: First Recordings vermitteln
dem Hörer den Eindruck, als sei der 17-jährige Friedrich
Gulda erst gestern im Aufnahmestudio gewesen.
Andreas Kolb
Auswahldiskografie: Friedrich Gulda
• Decca Beethoven Recordings 1950 -1958, L.v. Beethoven,
32 Klaviersonaten, Violinsonaten Nr. 7 & Nr. 10. Klavierkonzert
Nr. 1 in C-Dur, 15 Variationen & Fuge in Es-Dur op. 35 „Eroica“,
Bagatellen op. 126/ 2 & 3, Friedrich Gulda, Klavier, Ruggiero
Ricci, Violine, Wiener Philharmoniker, Karl Böhm
Decca 11-CD 475 6835
• W.A. Mozart: Klavierkonzerte Nr. 20, 21, 25 und 27
DG 2-CD 4158422
• Friedrich Gulda – The First Recordings: J.S. Bach,
L.v. Beethoven, F. Chopin, S. Prokofieff, C. Debussy und W.A.
Mozart
Decca 476 3045
• J.S. Bach: Das Wohltemperierte Klavier Bd. 1 und 2
Philips 2 CD 4465452
Philips 2 CD 4465482
• Gulda spielt...
Wiederentdeckte Sensationsaufnahmen der Sechziger Jahre
Bach, Mozart, Schubert, Chopin, Mozart
Decca 476 3007
• The Complete Musician
Amadeo 3 CD 4728322
•Friedrich Gulda „Midlife Harvest“
Universal MPS 5-CD 06024 98 28945