nmz 2005/05 | Seite 31
54. Jahrgang | Mai
Verband Bayerischer
Sing- und Musikschulen
Der Hahn von nebenan
Eine Kooperation der Städtischen Musikschule und Landesschule
für Behinderte in München
Im Refrain vom Lied über den Hühnerstreit schallte lautstark
intoniert von vielen grünen und blauen Hühnern und allerhand
anderen Tieren ein kräftiges „Kiickeriikii!“ von
der Bühne. In bunten Kostümen, vor liebevoll gestalteter
Kulisse präsentierten Mitte April rund 30 Schüler der
integrativen Musiktheatergruppe der Städtischen Sing- und Musikschule
München und der Bayerischen Landesschule für Körperbehinderte
im Münchner Gasteig das Musiktheaterstück „Der Hahn
von nebenan“.
Die integrative Musiktheatergruppe unter der Leitung von Tilman
Häuser und Birgit Stahl-Tröndle entwickelte das Musikstück
anhand von Kindergedichten verschiedener Autoren. Die Geschichte
rund um den Hühnerstreit hat der Münchner Komponist Heribert
Riesenhuber vertont, der schon öfter Kompositionsaufträge
für die Landesschule übernommen hat. Die Geschichte erzählt
vom Streit eines Hühnervolkes über die Frage, welcher
der beiden Hähne der verfeindeten Hühnergruppen der schönste
mit der eindrucksvollsten Stimme sei. Erst das Drama um die junge
Liebe zwischen einem Schmetterling und einer Blume kann das gestörte
nachbarschaftliche Verhältnis kitten. Konzentriert bei der
Sache, mit großem Engagement und viel Herz sangen, spielten
und tanzten gemeinsam behinderte und nichtbehinderte Kinder im Alter
von sechs bis 13 Jahren. Musikalisch begleitet wurde ihr Spiel von
einem vierköpfigen Musikschul-Ensemble.
Das integrative Musiktheaterprojekt der Städtischen Sing-
und Musikschule und der Landesschule für Körperbehinderte
ist bereits das vierte in Folge. Vor fünf Jahren begann die
Kooperation. Brigitte Richter, Fachbereichsleiterin an der Sing-
und Musikschule, suchte damals den Kontakt zur Landesschule.
„Die dortige Musiklehrerin Birgit Stahl-Tröndle hatte
für die Idee der Zusammenarbeit sofort Feuer gefangen“,
erinnert sie sich. Gemeinsam mit der Landesschule realisiert der
städtische Musiktheaterzug seither integrative Musikprojekte.
Richters Fachbereich mit dem Titel „Musikerziehung für
behinderte Kinder und Jugendliche“ betreut und unterstützt
die Integrativgruppen der Sing- und Musikschule vom Früherziehungsunterricht
bis zum Ensemblespiel. „Der Musiklehrerin der Landesschule
und dem Musikschullehrer Tilman Häuser ist es vor allem zu
verdanken“, sagt Richter, „dass Jahr für Jahr an
neuen Melodien, Texten, Instrumentalbegleitungen und Choreographien
geübt und gefeilt wird“. Jahr für Jahr treffen behinderte
mit nichtbehinderten Kindern zusammen und begegnen sich Eltern unterschiedlichster
Typen. Das bedeutet, eine Fülle an verschiedensten persönlichen
Voraussetzungen, Fähigkeiten und Bedürfnissen zu koordinieren.
Aber bei aller Vielfalt, wenn es um das gemeinsame Projekt geht,
ziehen die Kinder an einem Strang. Sie stellen momentane Bedürfnisse
hinten an, weil sie die Freude am gemeinsamen Singen und Musizieren,
die Konzentration auf eine Sache und das Hinwirken auf ein gemeinsames
Ziel hautnah erleben. Die Faszination der Musik und der Stolz darauf,
in einem besonderen Rahmen etwas ganz Besonderes zu können,
verwandeln alle Anstrengungen in ein positives Gefühl. Das
hat inzwischen auch die Eltern angesteckt: „Sie erarbeiten
Kostüme und Requisiten, schieben die Kulissen und übernehmen
zahllose Fahrdienste zu den Proben“, erzählt Richter.
Der Gemeinschaftssinn unter Kindern, Eltern und Lehrkräften
ist vorbildlich. Das Wort „Integration“ will hier jedoch
keiner so recht verwenden. Das würde nur als Alibi empfunden.
Dann lieber von einem „Miteinander“ sprechen. Denn auch
die Eltern mussten erst zusammenwachsen, das Miteinander lernen
und schließlich mit Leben füllen. Die Bemühungen
der Lehrkräfte haben sich gelohnt: „Berührungsängste
gibt es in der Zwischenzeit nicht mehr. Alle Kinder werden von allen
Erwachsenen gemeinsam betreut, jeder fühlt sich gleichermaßen
verantwortlich“, erklärt die Fachbereichsleiterin.
Die Rollen der jungen Schauspieler sind maßgeschneidert
und werden entsprechend den jeweiligen Fähigkeiten entwickelt.
In einem Theaterstück rollte einmal ein Taxi über die
Bühne. „Der Rollstuhl fahrende Junge, ausgestattet mit
Hupe und allem, was ein Taxi benötigt, hatte jede Menge Spaß
in seiner Rolle als Taxifahrer“, erzählt Richter. Natürlich
müssen spezielle Vorgehensweisen und ein unterschiedliches
Tempo bei der Einstudierung berücksichtigt werden. Für
Kinder mit Problemen im Bereich der Wahrnehmung bedeutet Musiktheater,
sich auf dem begrenzten Bühnenraum in sehr komplexen Spielsituationen
singend zu bewegen. Vor einem vielfältigen Reizhintergrund
muss die Aufmerksamkeit auf den zeitlichen Ablauf der Handlung konzentriert
bleiben. Bewegungen müssen koordiniert werden, gleichzeitig
wird weitergesungen und der nächste Einsatz vorbereitet. Aber
all dies ist auch für nichtbehinderte Mitspieler nicht selbstverständlich
und muss intensiv geübt werden.
In der jüngsten Aufführung brachten alle Schüler
Höchstleistung auf gleichem künstlerischen Niveau. Ein
Unterschied zwischen Kindern mit und ohne Behinderung ist auf der
Bühne ohnehin nicht mehr festzustellen. „Oft haben die
Kinder mit einer Behinderung mehr Power, als man vermutet“,
berichtet Häuser aus seiner Praxis. Mögen behinderte Kinder
auf ihr Umfeld auch „anders“ wirken, ihr Wesen zeichnet
so viel Spontaneität und Offenheit aus, dass nichtbehinderte
Kinder erheblich davon profitieren könnten, so Häuser.
Im nächsten Schuljahr wird der gemeinsame Musiktheaterzug
weiterfahren. Für die Kinder der Landesschule und der Städtischen
Sing- und Musikschule sowie deren Eltern und Lehrkräfte gibt
es viel zu tun. Neue Stücke, Lieder, Texte, Kostüme -
neue Inszenierungen entstehen. Die intensive und zeitaufwändige
Kooperation erfordert von allen Beteiligten sehr großes Engagement.
Da ist es von Vorteil, dass die meisten wissen, worauf sie sich
einlassen. Die Neulinge in der integrativen Musiktheatergruppe können
so auch besser eingebunden werden. Die Musiklehrerin Stahl-Tröndle
möchte in Zukunft den Kontakt sogar noch stärker ausbauen
und plant, die Kinder der Sing- und Musikschule zu einem Spielnachmittag
in die Landesschule einzuladen. Dort gibt es nämlich einen
Riesenspielplatz. Bis es jedoch soweit ist, werden die Hühner
noch einige Male lautstark „Kiickeriikii!“ intonieren.
Weitere Informationen zur integrativen Musiktheatergruppe bei Brigitte
Richter unter Tel. 089/48 09 84 01.