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nmz-archiv
nmz 2005/05 | Seite 34
54. Jahrgang | Mai
ver.die
Fachgruppe Musik
Vom Schwinden öffentlicher Kultur
Musikschule: Kapitalistischer Dienstleistungsbetrieb oder Kulturauftrag
des öffentlichen Rechts?
Musikschulen leben seit Jahren mit der Bedrohung, privatisiert
oder geschlossen zu werden. Sie mussten und müssen sich in
ihren inhaltlichen Konzeptionen verbiegen lassen, tun oder taten
dies gar vorauseilend aus eigenen Stücken, um den Auflagen
der Kämmerer immer knapper werdender Kassen genüge zu
tun. Hatte das Sozialstaatsgebot der Nachkriegsordnung mit seinem
impliziten Recht auf Bildung und gleicher Teilhabe aller daran,
zuzeiten eine fast flächendeckende Versorgung mit Musikschulen
entstehen lassen, scheint das heute ohne Wert.
Im südwestdeutschen Raum, in Trossingen und Villingen-Schwenningen,
sind annähernd 100 Musikschullehrer von Entlassungen bzw. Umwandlung
ihrer Arbeitsverhältnisse betroffen (siehe K+K 1/2-05). In
meiner Region (Köln), haben bereits die Musikschulen in Niederkassel
und Troisdorf ihr Angebot heruntergefahren. In Weilerswist wurde
sechs Kollegen gekündigt. Inzwischen rumort es in der Bergisch-Gladbacher
Presse, dass Teile der Musikschule, an der ich seit 1982 arbeite,
bis auf eine musikalische Grundversorgung geschlossen werden sollen.
Arbeitslosigkeit droht.
Es trifft eine große, bestens funktionierende Musikschule,
in einer Stadt nach wie vor wohlhabender Bürger, in der Öffentlichkeit
angesehen und angenommen, von anerkannt hoher fachlicher Qualität.
Gleichwohl ist das nur das Anfangsstadium einer zunehmend weiter
um sich greifenden Zerstörung öffentlicher Kultur und
Bildung, denn die ursächlichen Entwicklungen, die zu ihrer
Krise geführt haben, werden sich weiter zuspitzen.
Öffentlicher Kultur und kultureller Bildung misst man unter
der Hegemonie der „Modernisierer“ außer dem Tauschwert
allenfalls den Wert schmückenden Beiwerks bei. Der politische
Wille der neoliberalen Allparteienkoalition überlässt
sie den Gesetzen des Markts, trotz publikumswirksamer, noch Bedenken
vorgebender Verrenkungen ihrer Protagonisten.
Sozial hat keine Konjunktur und die Börse gratifiziert das
Asoziale. Sprachgebräuchlich erscheint sozial nur noch im Zusammenhang
mit Demontage. Der Sozialstaat sei ein Auslaufmodell, weil er der
Grund der allgegenwärtigen Krisenerscheinungen sei, behaupten
die Neoliberalen. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit verhindere
gar, dass die „fruchtbare Energie der Ungleichheit freigesetzt
werde“, wie es der Reagonomicer George Gilder formulierte.
Die katholischen Sozialpolitiker der CDU verschwinden, diskreditiert
und desavouiert, in der Versenkung. Die Gedankenspiele der (Sozial)Demokraten,
sich auch im Parteinamen ihrer Politik anzupassen, sind noch in
Erinnerung. Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank,
fordert gar die Überwindung des „westdeutschen Sozialismus“.
Die soziale Marktwirtschaft stiehlt sich davon. In der europäischen
Verfassung taucht der Zusammenhang „Marktwirtschaft“
und „sozial“ nur noch ein einziges Mal auf.
Deutschlands herrschende Klasse will eine andere Republik und
führt einen strikten Klassenkampf von oben, um die hart erkämpften
sozialen Zugeständnisse wieder rückgängig zu machen.
Seit Jahren zielen die öffentlichen Diskurse auf die Gehirne
der Menschen, um sie zu nötigen, sich an der Zerschlagung ihrer
sozialen Schutzrechte zu beteiligen. Es muss uns erst viel schlechter
gehen, damit es uns vielleicht einmal wieder besser geht. Es herrscht
ein fast mythischer Glaube an die Effizienz freier, sich selbst
überlassener Märkte, die in der Wirklichkeit von 65.000
weltweit operierenden transnationalen Konzernen kontrolliert werden
und wo die Bedürfnisse von zunehmend verarmenden Menschen gar
nicht mehr auftauchen können. 385 reiche Personen besitzen
ein Vermögen, das das Jahreseinkommen von 2,5 Milliarden der
ärmsten Menschen übersteigt, fast der Hälfte der
Weltbevölkerung. Die jahrzehntelange Umverteilung von unten
nach oben hat gewaltige Kapitalmassen in die Kassen der Konzerne
gebracht. Nur noch ein Viertel ihres Einkommens brauchen sie für
Investitionen zur Aufrechterhaltung und Erweiterung der Produktion.
Drei Viertel sind Gelder auf der Suche nach profitabler Anlage.
Auf der Agenda der Konzerne steht die vollständige „Durchkapitalisierung“
der Gesellschaft, die „innere Landnahme“. Die Zerstörung
der Sozialsysteme ist Voraussetzung dazu. Was von Kunst und Kultur,
die traditionell in Deutschland und Europa öffentlicher Förderung
unterliegen, übrig bliebe, kann man sich am Beispiel aktueller
Tendenzen unschwer vorstellen. Durch internationale Abkommen wie
GATS (General Agreement on Trade in Services) und die EU-Dienstleistungsrichtlinie
(DLR) sollen bisher durch den Staat geschützte Dienstleistungen
der öffentlichen Hand und die öffentliche Daseinsfürsorge
welt- und europaweit den Verwertungsbedingungen des Kapitals unterworfen
werden – alle auch privatwirtschaftlich darstellbaren Dienstleistungen,
wie es im GATS heißt.
Versuche, die Politik zu bewegen, Kunst, Kultur und kulturelle
Bildung aus diesen Prozessen herauszuhalten, scheinen schwierig
und langfristig nahezu aussichtslos angesichts des Drucks der Profitinteressen
(zwei Drittel der gesamten Wirtschaftsleistung in den Industrieländern
entfällt auf den Dienstleistungssektor) und der in Lissabon
erklärten Absicht der Politik, den europäischen Binnenmarkt
zur dynamischsten Wirtschaftszone der Welt zu machen.
Zwar unterscheidet die gerade halbherzig zurückgewiesene
DLR zwischen „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“,
die besonderen Schutzregeln unterliegen, und „Dienstleistungen
von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“: Das böte
einen Ansatz – wie es der Deutsche Kulturrat in seinem Positionspapier
„Kultur als Daseinsvorsorge!“ unternimmt –, die
Politik zu drängen, die Kultur explizit auszuschließen
aus dem Geltungsbereich genannter internationaler Abkommen. Kunst
und Kultur aber werden von der WTO, der UNESCO und der EU bereits
als Dienstleistungen klassifiziert, und zwar dann, wenn der öffentlichen
Dienstleistung eine wirtschaftliche Gegenleistung (Entgelte, Gebühren
etc.) gegenübersteht oder der Erbringer solcher Dienstleistungen
bereits teilprivatisiert ist oder es ein privatwirtschaftliches
Pendant dazu gibt. (Auf Musikschulen treffen alle genannten Kriterien
zu.)
Der Grund dieser bedauerlichen Entwicklung seien die durch die
„Globalisierung“ entstandenen Sachzwänge, wird
gesagt. Was aber ist das, was da wie eine Naturgewalt daherkommt
und uns unsere Handlungsfähigkeit nimmt? In seiner deskriptiv-euphemistischen
Gestalt beschwört der Begriff dekorative Bilder der kulturellen
Vielfalt zusammenrückender Völker, der rücksichtslose,
kapitalintensive Konkurrenzkampf der „Shareholder“ um
die Höhe ihrer Rendite bleibt ihm verborgen.
Diese Art politischer Ökonomie unterminiert schrittweise die
Existenzbedingung öffentlicher Kultur, auch der Musikschulen.
Noch gibt es fast 1.000 Musikschulen, in denen 35.000 mehr schlecht
als recht bezahlte Musiklehrer arbeiten, die nahezu 900.000 SchülerInnen
unterrichten. Trotz einer immensen Verschuldung der öffentlichen
Kassen, denen in Folge der rotgrünen Steuer-„Reform“
aus dem Jahr 2000 inzwischen mehr als 80 Milliarden Euro an entgangenen
Einnahmen fehlen.
Der deutschen Industrie geht es indessen so gut wie lange nicht.
(Die Gewinne der 30 DAX Unternehmen stiegen 2004 um 60 Prozent.
Wieder wurde „Deutschland“ zum x-ten Mal Exportweltmeister.)
Obwohl Anfang der 90er-Jahre an den Musikschulen Verbesserungen
erkämpft werden konnten, so dass die bis dahin meist Teilzeit
beschäftigten Musiklehrer in die Regelungen des BAT übernommen
wurden, muss seit Jahren an diesen Musikschulen gespart werden,
existiert ein fast totaler Einstellungsstopp, wird versucht, den
Musikschulbetrieb durch Qualitätsmanagement betriebswirtschaftlich
einzuorden, wird der Einzelunterricht immer mehr in den Hintergrund
gedrängt und durch fragwürdige Gruppenunterrichtskonzepte
ersetzt, müssen die Gebühren ständig erhöht
werden, werden Honorarlehrer eingestellt, die froh sein können,
unter völlig unakzeptablen Bedingungen arbeiten zu dürfen,
und wird mit ihnen ein Zweiklassenkollegium installiert. Und es
gibt Musikschulen, die den Einsatz von Ein-Euro-Jobbern schon in
Erwägung ziehen.
Tatsächlich wurde inzwischen bekannt, dass an allgemein bildenden
Schulen in Niedersachsen und Berlin bereits Ein-Euro-Jobber als
Lehrer eingesetzt wurden. Schließlich umgeht man auch so die
angeblich zu hohen Lohn-Neben-Kosten. Wie sie sich drücken
lassen, zeigen überdies private Anbieter von Musikunterricht.
Sie machen seit geraumer Zeit mit aggressiven Werbekampagnen auf
sich aufmerksam, stoßen vor in die Ruinen der öffentlichen
kulturellen Bildung, die die jahrelange Sparpolitik hinterlassen
hat. Einer von ihnen: der Bundesverband deutscher Privatmusikschulen
e.V., gegründet 1997, eine rasant wachsende Interessenvertretung
dieser privaten Initiativen. Die Konzepte des BDPM sind einfach
und klar: „Die private Musikschule versteht sich als moderner
Dienstleister, der den Wünschen junger Menschen nach Musikunterricht
schnell, kompetent und preiswert durch qualifizierte Musiklehrer
nachkommt“, erklärt Peter Thies, 1. Vorsitzender des
BDPM und Geschäftsführer der Kulturhaus Rhein-Ruhr GmbH,
Oberhausen – mit 2.000 Schülern ist das die größte
Musikschule im Verband.
Wartelisten haben sie nicht, es gibt Leihinstrumente, die Lehrer
müssen nicht zwei Jahre zur Fortbildung. Die Preise sind (noch)
erschwinglich: 15 Euro pro Kind und Monat, mit Leihinstrument kostet
der Unterricht 20 Euro. Allerdings bleibt für die Musiklehrer
nicht viel übrig: „Es ist so wenig, dass meine eigenen
Lehrkräfte nicht einmal ihre eigenen Kinder in die Musikschule
schicken können,“ klagt der bei Thies angestellte Leiter
einer solchen Schule.
Projiziert man diese Praxis auf GATS und die DLR, ist der Phantasie
der Geschäftstüchtigen keine Grenze mehr gesetzt: Konsequent
zielt die Richtlinie darauf ab, vor allem die Mobilität kleiner
und mittlerer Unternehmen zu stärken. Dabei spielt das Prinzip
des Herkunftslandes eine wesentliche Rolle. Der Anbieter, der seine
Dienstleistung überall in Europa anpreisen kann, unterliegt
den Rechtsvorschriften seines Heimatlandes. Nicht nur werden damit
die Tore für europaweites Lohndumping geöffnet, sondern
auch die Einhaltung gesetzlicher Gewährleistungs- und Haftungsbedingungen
und nationaler Kontrollstandards konterkariert.
Das GATS erweitert diese Möglichkeiten weltweit. Private Anbieter
von Musikunterricht könnten dann generell Vorrang vor öffentlichen
und gemeinnützigen Trägern haben. Das Szenario: Alle öffentlichen
Eigenleistungen oder Subventionen sind untersagt, sanktioniert oder
sie sind ebenfalls den privaten Anbietern, das heißt auch
ausländischen, zu gewähren. Die Notwendigkeit staatlicher
Dienstleistungen steht grundsätzlich unter Vorbehalt und ist
in so genannten „necessity tests“ erst zu beweisen.
Denn den Wettbewerb verzerrende Sozial-, Tarif-, Umwelt- oder Verbraucherstandards
gelten somit auf den liberalisierten Märkten als Handelshemmnisse.