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nmz-archiv
nmz 2005/06 | Seite 46
54. Jahrgang | Juni
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Durchmarsch
Der 12. Mai ist ein historisches Datum für das Verhältnis
Deutschlands zu Europa. An diesem Tag beschloss der Bundestag mit
über 95 Prozent der Stimmen, eine Reihe für die nationale
Selbstbestimmung wichtiger Rechte an die EU-Verwaltung in Brüssel
abzugeben. Es gibt gute Gründe, die eine solche Teilabtretung
der Souveränität rechtfertigen. Und es gibt auch gute
Gründe, dagegen zu sein. Insofern scheint es sich bei der Abstimmung
um einen normalen demokratischen Vorgang unter Abwägung von
Pro und Kontra gehandelt zu haben. Zweifel daran sind jedoch erlaubt.
Die Willensbildung fand ohne die breite öffentliche Debatte
statt, die für eine so gravierende Entscheidung nötig
gewesen wäre. Nicht einmal das Parlament scheint in der Lage
gewesen zu sein, sich mit der Materie hinreichend zu befassen. Viele
Abgeordnete hatten gar keine Zeit – oder keine Lust? –,
den Vertragstext gründlich zu studieren. Vom einfachen Bürger
ganz zu schweigen. Wer liest schon gern ein Paragrafenungetüm,
das beim Download im Internet rund zwei Megabyte umfasst und nach
dem Amtsschweiß von tausend Sesselfurzern riecht? Bringt dafür
auch nur ein Bürger jenes Mindestmaß an Identifikation
auf, das für die Akzeptanz einer Verfassung nötig wäre?
Die gesamte Öffentlichkeit war von der elefantösen Macht
der Fakten überfordert. Inhaltliche Aspekte wurden, wenn überhaupt,
erst kurz vor der Abstimmung ernsthaft diskutiert. Viel zu spät
für eine Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung, und eine
Farce im Vergleich zur leidenschaftlichen öffentlichen Diskussion
im Nachbarland Frankreich. Aber offensichtlich war das in Deutschland
auch gar nicht beabsichtigt. Das Volk sollte das Maul halten, die
ganze Angelegenheit im abgeschirmten parlamentarischen Raum durchgedrückt
werden. Da kann man nur mit dem alten Brecht fragen, wovor die Regierenden
eigentlich Angst haben. Glauben sie insgeheim etwa selbst, es handle
sich um ein Kuckucksei? Oder fürchten sie schon den Blair-Effekt?
Seit den Lügen um den Irakkrieg wird der Premier in den englischen
Medien als Mr. B. Liar vorgeführt.
Von der Manipulation der öffentlichen Meinung, wie sie vor
dem Irakkrieg in den USA praktiziert wurde, scheint das alles nicht
allzu weit entfernt. Widerspruch war karrieregefährdend. Zweifelnde
Abgeordnete wurden, wie zu lesen war, massiv unter Druck gesetzt,
Gegenargumente schon im Vorfeld weggewischt nach dem Motto: Wer
nicht dafür ist, ist gegen Europa. Wer trotzdem noch den Mund
aufmachte, wurde in die rechtsnationale Ecke geschoben. So kam jene
„überwältigende Mehrheit” zustande, von der
bis 1989 auch anderswo die Wahlstrategen gerne träumten.
Die Initiative von Skeptikern, die in letzter Minute einen Mitsprachevorbehalt
für die Länder bei sie betreffenden Gesetzesänderungen
durchsetzten, wurde vom Bundeskanzler, einem begnadeten Populisten,
zunächst als billiger Populismus abgetan. Doch wenn der Parlamentsbeschluss
demnächst beim Bundesverfassungsgericht landet, wird er darüber
vielleicht noch froh sein; der Vorbehalt könnte dazu beitragen,
die Bedenken des Gerichts zu verringern.
Man darf rätseln über die Gründe dieses lemminghaften
Verhaltens nicht nur der politischen Klasse, sondern auch großer
Teile der Medien. Haben sie das Wirtschaftsdenken, das nach immer
größeren Organisationseinheiten strebt, schon so verinnerlicht,
dass ein zentralistisch geleitetes Großeuropa für sie
schon ohne Alternative ist? Ein bis zur irakischen Grenze reichendes
Großeuropa, dessen Befindlichkeit sich am Kursverlauf von
Eurostoxx ablesen lässt, und das seinen Platz zwischen China
und den USA durch eine gemeinsame Rüstungspolitik unter Federführung
von EADS und einen entsprechend flexiblen „Außenminister”
zu finden hofft?
Und was passiert mit der Kultur, die mit ihrer Vielfalt die Idee
von Europa seit jeher entscheidend geprägt hat? Den Zentralisierungstendenzen
wird sie sich nicht entziehen können, da der sichere Zugriff
auf sie einen gewaltigen Profit verheißt. Doch die Schimäre
einer kulturindustriell erzeugten „neuen europäischen
Identität”, in der sich multiethnische Einflüsse
in urbanen Räumen zu einem internationalistischen Gemisch verbinden
sollen, kann die polyzentrischen, in mehr als zwei Jahrtausenden
entstandenen Bewusstseinsstrukturen nicht ersetzen. Sie vermag allenfalls
Rundfunk und Fernsehen zu einigen bunten Crossover- und Multikulti-Sendungen
zu animieren.
Alt gewachsene Identitäten können nicht per Dekret neu
definiert und noch viel weniger zum Verschwinden gebracht werden.
Das lehrt die Erfahrung mit der Sowjetunion und Jugoslawien. An
die gesellschaftlichen und geographischen Ränder abgedrängt
und häppchenweise mit Selbstverwaltungskompetenzen ruhig gestellt,
entfalten sie im Krisenfall eine explosive Dynamik.
Den Euphorikern der Macht, die in ihren abgeschotteten Regierungs-
und Verwaltungsetagen schon die nächsten Schritte in Richtung
Großeuropa planen, scheinen solche Überlegungen fremd
zu sein. Das weckt ungute Ahnungen für die Zukunft.