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nmz-archiv
nmz 2005/06 | Seite 47
54. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Pomp, Rock und wärmende Strickmuster
Die Uraufführung des Musik- und Filmprojekts „Shelter“
in der Reihe musikFabrik im WDR
Der Mensch wird nackt geboren und sucht sein Leben lang Schutz
vor Witterung, Nacht, Hitze, Kälte in Höhlen, Hütten,
Häusern, Kleidern. Neben physischer Sicherheit bietet ein Zuhause
auch vertraute Umgebung, Rückzugsmöglichkeit, Privatsphäre,
Geborgenheit im Kreis der Familie, kurzum ein Stück Heimat.
Das Gemeinschaftsprojekt des Ensembles musikFabrik mit der Brooklyn
Academy of Music in New York stellte sich jetzt die Aufgabe, unter
der Leitung des durch Musik von Steve Reich erprobten Dirigenten
Brad Lubman und einem seit vielen Jahren eingespielten Team von
drei Komponisten, einer Librettistin, einem Filmer und Regisseur
unter dem Titel „Shelter“ neben der existenziellen Bedeutung
auch die verschiedenen emotionalen, geistigen, religiösen und
ästhetischen Aspekte der Begriffsfelder Schutz und Zuflucht
zu beleuchten.
Auf Texte von Deborah Altman und Videos von Bill Morrison komponierten
die Begründer des New Yorker Festivals „Bang on a Can“
Michael Gordon, David Lang und Julia Wolfe – allesamt Vertreter
der us-amerikanischen Minimal Music – eine Folge von sieben
Stücken. Eingangs ist als Inbegriff der bedrohlichen Urelemente
eine tosende Meeresbrandung zu sehen, vor der auf sicherer Brüstung
Menschen spazieren. Es folgt eine Autofahrt durch eine Felswüste,
die durch verwinkelte Brettergerüste durchkreuzt wird, als
sollte die ganze Landschaft verbaut und alle Natur domestiziert
werden. Eine andere Nummer zeigt ein nächtliches Villenviertel
mit erleuchteten Fenstern und als Überblendung davor eine im
Wind wehende Gardine. Die filmischen Manipulationstechniken entsprechen
den repetitiven Mustern der Musik und sind mit dieser perfekt synchronisiert.
Das Motiv „Shelter“ bleibt dabei jedoch etwas einseitig
und zu sehr auf Häuser fixiert. „American Home“
basiert auf einer Liste der für den Bau eines US-amerikanischen
Durchschnittshauses benötigten Materialien, wozu eine pompöse
neo-barocke Intrada erklingt, deren wuchtige Trommelschläge,
Pauken und Trompetenfanfaren mit dazwischen aufheulender E-Gitarre
eher an absolutistische Repräsentationsarchitektur denken lassen.
Anschließend nehmen der süße „Summer evening“
und die Musical-Schnulze „I want to live where you live“
den durch neue Musik geschädigten Hörer unter die zarten
Fittiche der drei hervorragenden Sängerinnen des trio mediæval
aus Oslo. In Zeiten metaphysischer Obdachlosigkeit nach dem Tod
Gottes bieten sich immerhin noch Kunst und Kitsch als Zufluchtsstätten.
Im Hinblick auf die Themenvorgabe erscheint die durchgehend pulsierende
Minimal Music als un- und vorbewusstes Drängen oder Bedrängtsein.
Zugleich wirken die Kompositionen über weite Strecken austauschbar
und lassen eine stärkere Differenzierung zwischen verschiedenen
Stufen von musikalischer Vertrautheit und Fremdheit, Gewalt und
Milde, Kälte und Wärme vermissen. Sie kennen letztlich
nur die Alternative zwischen weichem Cantabile und hartem Marschieren
und ihr Bezug zu den Bildern bleibt lose. So erklingt in der letzten
Nummer zu historischen Filmaufnahmen eines überfluteten Landstrichs
ein fulminanter Zirkuswirbel mit darüber gelegtem psalmodierendem
Klagegesang, der abschließend zu einem krachledernen show
down gesteigert wird: Ein echter Kraftakt, bei dem die Mitglieder
der musikFabrik eher als schwitzende Fabrikarbeiter denn als Musiker
gefragt waren. Bei den versammelten Schulklassen des pädagogischen
„Plug-in“-Projekts kam das gut an, da es ihnen Wiedererkennungseffekte
mit Pop- und Rockmusik bereitete. Ob das Nachwuchspublikum damit
aber auch den Weg ins nächste Konzert der Reihe am 3. April
findet, wenn Werke von Kyburz, Sciarrino, Xenakis und die Uraufführung
von Beat Furrers „recitativo“ auf dem Programm stehen?