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nmz-archiv
nmz 2005/06 | Seite 4
54. Jahrgang | Juni
Magazin -
60 Jahre nach Kriegsende
Die üblichen Verdächtigen
Wie reflektiert das deutsche Konzertleben den 60. Jahrestag des
Kriegsendes?
Das öffentliche Gedenken heftet sich gerne an Jahrestage.
Mit der Routine des Rituals kehrt es Jahr für Jahr wieder und
ist immer beides zugleich: Lippenbekenntnis und doch auch wesentliche
Form der Erinnerung. Der 60. Jahrestag des Kriegsendes macht es
dem Konzertleben dabei doppelt schwer, weil er mit Beethovens 9.
Sinfonie nicht schnell zu befriedigen ist, sondern angesichts der
Wucht des Geschehenen eine auch musikalisch tiefere Auseinandersetzung
fordert. Dabei muss es nicht, wie in der Debatte um das 2.711 Stelen
umfassende Holocaust-Mahnmal, gleich darum gehen, nicht nur den
Opfern zu gedenken, sondern auch zugleich auf die Täter zu
verweisen. Es könnte schon reichen, wenn die musikalischen
Lösungen spezifisch erscheinen und etwa einen lokal-geschichtlichen
Bezug suchen. Ein grober Blick auf den Konzertplan quer durch Deutschland
lässt allerdings den Eindruck entstehen, das sei eher die Ausnahme
als die Regel.
Lea Rosh, Initiatorin des
Holocaust-Mahnmals, und Lothar Zagrosek mit den Musikern
der Jungen Deutschen
Philharmonie. Foto: David Ausserhofer
Im musikalischen Gedenken rund um den 8. Mai 1945 gibt es freilich
auch in diesem Jahr Musterlösungen. Das Konzert der Jungen
Deutschen Philharmonie etwa, am 9. Mai aus Anlass der Eröffnung
des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in der Berliner
Philharmonie gehalten, ist eine. Mit einem programmatischen Wurf,
der auf das eine große, repräsentative Werk verzichtet,
sondern dagegen sein Thema umkreist, von verschiedenen Seiten beleuchtet,
Schlaglichter wirft. Zu Anfang Brahms Tragische Ouvertüre,
als Verweis, wie Sonja Epping, Geschäftsführerin der Jungen
Deutschen Philharmonie in der Mai-Ausgabe der nmz betonte, auf eine
(glückliche) Epoche vor dem Tausendjährigen Reich. Dann
Stücke unmittelbar Betroffener: Das Cello-Konzert von Ernst
Toch, der vor den Nazis ins US-amerikanische Exil floh, das Klavierkonzert
Erwin Schulhoffs, der 1942 in einem deutschen Konzentrationslager
starb. Schließlich mit Wolfgang Rihms Drei Requiem-Bruchstücken
der Blick zurück aus der Gegenwart. Das Zentrum indes bildet
das Unfassbare selbst: Arnold Schönbergs atemraubender, geradezu
erdrückender „Überlebender aus Warschau“,
den Michael Gielen bereits in den 70er-Jahren in Beethovens 9. Sinfonie
einbaute, um die Gedankenlosigkeit des Gedenkens zu thematisieren.
Die Junge Deutsche Philharmonie, die das Konzert auch inhaltlich
ausarbeitete, hat ihre Sonderstellung im Musikbetrieb damit aufs
Neue bewiesen. Kein Programm im Umfeld des 8. Mai näherte sich
dieser konzeptionellen Kompaktheit an. Allzu oft griff man zum Naheliegenden,
zu Benjamin Brittens „War Requiem“, das er 1962 anlässlich
der Wiedereinweihung der von deutschen Bombern zerstörten Kathedrale
in Coventry geschrieben hatte. In München in der Philharmonie
am Gasteig war es zu hören, in der Philharmonie in Berlin,
in der Beethovenhalle in Bonn und auch überall in den Provinzen
der Region. Brittens „War Requiem“ ist, polemisch gesagt,
die 9. Sinfonie des Kriegsgedenkens. Ein Werk mit sicherer Wirkung
und gewaltigem Aufwand, auch in seinen äußeren Dimensionen
ungemein repräsentativ, wie einige Veranstalter unter der Hand
zugeben, und also „dem Anlass angemessen“. Gerade Chöre
suchen das Werk, weil es sie zugleich fordert und ausstellt, und
initiieren eine Aufführung. Oft geraten sie zu offiziellen
Veranstaltungen: Die vom Karl-Forster-Chor Berlin maßgeblich
getragene Interpretation in der Philharmonie der Hauptstadt stand
unter der Schirmherrschaft von Bundestagspräsident Wolfgang
Thierse, das von Ralf Otto ge-leitete, vom Münchner Bach-Chor
angestoßene Konzert im Gasteig konnte sich mit der Anwesenheit
von Oberbürgermeister Christian Ude schmücken. Da war
es für das Münchner Rundfunkorchester, dessen Zukunft
lange ungewiss war und gerade erst gesichert wurde, selbstverständlich,
den eigenen Terminplan kurzfristig zu ändern und Präsenz
zu zeigen, wie Gitta Jäger, Disponentin des Rundfunkorchesters,
betont. Wenn die Stadt sich derart öffentlich im Musikleben
zeige, dürfe ihr Rundfunkorchester gerade angesichts der gespannten
Situation nicht fehlen. Eigene Pläne, selbst im ehemaligen
KZ Dachau zu spielen, scheiterten schon vor mehr als einem Jahr
– hauptsächlich aus ganz aufführungspraktischen
Gründen.
Britten selbst begriff sein „War Requiem“ im übrigen
nicht nur als Werk der Erinnerung, nicht nur als Mahnung und Anklage,
sondern auch als ein Beitrag zur Versöhnung. An der Uraufführung
1962 beteiligten sich, auf ausdrücklichen Wunsch Brittens,
Interpreten zuvor verfeindeter Nationen. Diese Symbolik wurde auch
am 60. Jahrestag des Kriegsendes häufig aufgegriffen, in der
Beethovenhalle Bonn etwa, in der sich der Knabenchor des New College
Choir Oxford, das Vokalensemble Chor Opéra Lyre Paris, der
Kammerchor Polski Kameralny Gdansk und der Philharmonische Chor
der Stadt Bonn zusammenfanden, unterstützt von internationalen
Vokalsolisten, dem Philharmonischen Orchester Köln und der
Kam-merphilharmonie St. Petersburg. Das Konzert selbst, von der
Bonner Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann als „Requiem
für den Frieden“ gedeutet, wurde von einem breiten Rahmenprogramm
und, eminent wichtig, durch ein Projekt an neun Schulen begleitet
und vorbereitet. Ohnehin stand die Musik zum 60. Jahrestag der Befreiung
selten isoliert da, oft bildete sie das festliche Zentrum eines
sehr viel größeren, alle Sparten umfassenden Gedenkens.
Für Alexander Hollensteiner, Dramaturg der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern,
kam Brittens „War Requiem“ dagegen nie ernsthaft in
Frage. Er suchte nach einem tragenden Stück fernab des offiziellen
Pfades – und fand Henryk M. Góreckis 3. Sinfonie, die
„Sinfonie der Klagelieder“, selbst überaus populär,
selbst auch überaus wirksam, aber doch vor allem still, ohne
die große Geste, mehr nach Innen als nach Außen zielend.
Im kühlen Schweriner Dom fand sie in der Norddeutschen Philharmonie
Rostock unter der Leitung von Generalmusikdirektor Peter Leonhard
ihre Interpreten – man folgte ihr, wie Hollensteiner erinnert,
mit gespannter Aufmerksamkeit.
Bei der Wahl von Góreckis 3. Sinfonie war auch entscheidend,
erklärt Hollensteiner, dass man ein Stück suchte, das
die sowohl geographische als auch historische Nähe Mecklenburg-Vorpommerns
zu Polen reflektiert und darüber hinaus auf das Leiden des
Zweiten Weltkrieges Bezug nimmt. Die „Sinfonie der Klagelieder“,
vom Polen Górecki komponiert, erschien ihm da geradezu unausweichlich
– vor allem auch, weil er ausdrücklich nach Musik fahndete,
die im Ritual des Gedenkens nicht zu den „üblichen Verdächtigen“
gehört.
Zugleich wirkt Góreckis 3. Sinfonie wie der perfekte Kompromiss.
Sie ist zeitgenössisch und doch zahm, sie bezieht sich auf
die Verbrechen des Tausendjährigen Reiches und doch erschreckt
sie nicht.
Sie vermeidet gar die Konfrontation, zieht sich zurück in
klagende Stille, die ebenso zeremoniell wirken kann wie der weltumarmende
Pathos von Beethovens „Freude, schöner Götterfunken“.
Schließlich ist überhaupt unklar, was ein Gedenktag wie
der 8. Mai überhaupt leisten will, leisten kann. Ist es ein
Tag, an dem Musik aufrütteln soll – oder ist sie nur
Teil eines zeremoniellen Korsetts, das kollektive Erinnerung ermöglicht?
Einig ist man sich nur darin, dass Triumph nicht möglich ist.
Doch aber Hoffnung. Ausdrücklich wünschte sich Lothar
Zagrosek zum Schluss seines Konzerts mit der Jungen Deutschen Philharmonie
zur Eröffnung des Holocaust-Mahnmals Schönbergs Psalm
Nr. 1 „O du mein Gott“. Hoffnung aber muss sich dem
Grauen stellen, aus dem sie erwachsen soll. Zagrosek und die Junge
Deutsche Philharmonie taten das mit ihrem musikalischen Programm,
wie viele andere auch. Nur aber auf Bach zurückzugreifen oder
auf Mozarts „Requiem“ oder auf Bruckners „Te Deum“,
scheint dagegen zu wenig. „Denn nur wer die Vergangenheit
kennt“, wusste schon Wilhelm von Humboldt, „hat eine
Zukunft.“ Das gilt heute, 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges
und im Angesicht des drohenden Verstummens der letzten Überlebenden,
mehr denn je.