[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2005/06 | Seite 6-7
54. Jahrgang | Juni
Magazin -
60 Jahre nach Kriegsende
Direkte und nachholende Vernichtung
Die Operette unterm Hakenkreuz und heute · Von Martin
Hufner
Manchmal findet die Geschichte kein Ende. 60 Jahre sind seit der
Niederzwingung des so genannten Dritten Reiches vergangen. Man erinnert
sich, man arbeitet auf. Aber man erinnert sich oftmals schlecht
und arbeitet schlecht. Die Erinnerung an die fürchterlichste
Geschichte, die Deutschland je der Welt antat, wird mit der Zeit
zudem nicht einfacher. Augen- und Ohrenzeugen werden weniger. Zudem
ist auch 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch viel
zerstörte kulturelle Erde und Erbe zurückgeblieben. Auch
gewisse Entwicklungen in Kulturleben und Ästhetik haben vielfach
unbemerkte Frucht getragen. Mit diesem Thema und Phänomen beschäftigte
sich eine Tagung Anfang Mai, die die Staatsoperette Dresden in Zusammenarbeit
mit der Akademie der Künste Berlin veranstaltete: Operette
unterm Hakenkreuz.
Foto: Martin Hufner
Die oben geschilderte Erfahrung ist nicht sonderlich neu. Bereits
1962 schrieb Adorno, durchaus noch im Sinne einer Aufgabe an uns:
„Das unsichere Verhältnis der Gegenwart zu den zwanziger
Jahren wird bedingt von geschichtlicher Diskontinuität. Während
das faschistische Jahrzehnt mit all seinen Elementen angelegt war
in der Epoche unmittelbar vorher, bis tief in den Expressionismus
hinein…, hat doch der bei den Nazis beliebte Terminus Umbruch
traurig recht behalten. Die Tradition, auch die antitraditionelle,
ist abgebrochen, halbvergessene Aufgaben sind zurückgeblieben.
Was künstlerisch nunmehr mit jener Epoche sich einläßt,
greift nicht nur eklektisch auf eine unterdessen erloschene Produktivität
zurück, sondern gehorcht zugleich auch der Verpflichtung, das
Unerledigte nicht zu vergessen. Zur eigenen Konsequenz ist weiterzutreiben,
was 1933 von einer Explosion begraben ward, die in ganz anderem
Sinn Konsequenz der Epoche war.“ Es gibt viel Unerledigtes
und ebenso viel Erledigtes aus jener Zeit. Im Zentrum dieser Erledigungsarbeit
darf auch ein musikalisches Genre stehen, welches in einem gewissen
Maße heute ein Nachblühen erlebt: die Operette. Sie war
besonders von der „Explosion“ des Nationalsozialismus
in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts verschüttet worden.
Was der Operette in den 30er Jahren widerfuhr mag zwar auch in einer
allgemeinen ästhetischen Ab- und Entwicklung des Genres gelegen
haben, ganz sicherlich haben aber die Nazis mit ihrer rassistischen
Kulturpolitik die Gattung Operette niedergemacht, und das, obwohl
genügend Nazi-Größen sich zu Operetten bekannt haben.
Adolf Hitler selbst war ein großer Liebhaber von Lehárs
Operette „Die lustige Witwe“, deren Uraufführung
1905 in Wien er beigewohnt hat. In den 30er-Jahren kam es sogar
zu einer vertrackten Annäherung zwischen Hitler und Lehár.
Dieser nahm am 27. November 1936 an der 3. Jahrestagung der Reichskulturkammer
in der Berliner Philharmonie teil, wo er auch Hitler kennen lernte,
wie der Lehár-Forscher und Theaterwissenschaftler Stefan
Frey auf der Dresdner Tagung referierte. Hitler war nach Albert
Speers Zeugnis „noch Tage danach beglückt über dieses
bedeutungsvolle Zusammentreffen. Für ihn war er in allem Ernst
einer der größten Komponisten der Musikgeschichte. Seine
,Lustige Witwe’ rangierte für Hitler gleichrangig neben
den schönsten Opern.“ „Offiziell schlug der Politiker
Hitler in seinen Reden andere Töne an“, schreibt Stefan
Frey.
„Millionen für Kitsch“
Am 13. August 1920 im Hofbräuhaus in München redete
er so: „Wir erleben es, daß wohl ein Friedrich Schiller
für eine Maria Stuart 346 Taler erhalten hat, aber auch, dass
man für die Lustige Witwe dreieinhalb Millionen heute erhält,
daß man für den größten Kitsch heute Millionen
verdient.“ Die „Lustige Witwe“ großer Kitsch
und große Kunst? In der anarchischen nationalsozialistischen
Kulturpolitik ging das ohne Umschweife zusammen. Peter Kreuder,
der die „Lustige Witwe“ 1939 für das Theater am
Gärtnerplatz in München bearbeitete, notierte: „Wie
gesagt, ein prächtiger Mensch, dieser Hitler, soweit es die
Operette betraf. (…) Hitler erzählte mir, daß er
von meiner Neubearbeitung restlos begeistert sei. Er nannte es nicht
Jazz, was ich gespielt hatte. Er nannte es moderne Rhythmen.“
Das alles hinderte freilich die Nazis nicht daran, zahlreiche Künstler,
auch aus der Operettenwelt, zu ermorden. „Trotz der ‚Lustigen
Witwe‘ wurde der Uraufführungs-Danilo von 1905, der damals
auch Hitler begeistert hatte, am 28. Juli 1942 nach Theresienstadt
transportiert, wo er am 5. März 1943 – nach offizieller
Lesart – den ,Tod durch Entzehrung‘ erlitt.“ Übrigens
wurde auch von Seiten seiner Kollegen aus der E-Musik gegen Lehár
gespielt: Nachdem Richard Strauss die von Severius Ziegler verantwortete
Ausstellung „Entartete Musik“ 1938 besucht hatte, äußerte
er sich, er habe „den ganzen Franz Lehár vergessen.
Das ist die ,Entartung‘ der Operette!“ Strauss wollte
gar, wie Frey auf der Tagung darlegte, nach seiner Ernennung zum
Präsidenten der Reichsmusikkammer ein deutsches Urhebergesetz
entwickeln: „Demnach müsste ein Dreimäderlhaus,
Verarbeitung Goethe’scher Lieder in einer Lehàr’sche
Schmachtoperette und all der Unfug polizeilich verboten werden können.“
Wenn es schon so problematisch für die Kulturpolitik der
Nazis war, mit einem „arischen“ Komponisten umzugehen,
wie sollte es dann erst mit den „Nichtarischen“ sein.
Der Vorgang um den so genannten Walzerkönig Johann Strauß
sei eigens erwähnt. Durch einen Zufall entdeckte man nämlich
1938, dass sein Stammbaum im Rahmen nazistischer Ideologie Probleme
aufwies. Strauß war damals ein so genannter Vierteljude. Damit
wäre die Verbreitung seiner Musik „als für die deutsche
Volksseele schädlich“ eigentlich nicht gestattet gewesen.
Der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels nahm sich der Sache
höchstpersönlich an und erklärte die Angelegenheit
zur „Geheimen Reichssache.“
Komplett verwirrend wird die Operettengeschichte in der Person
des Komponisten Léon Jessel. Er war der Komponist des „Schwarzwaldmädels“,
einer Operette, die 1917 in Berlin einschlug. In den schweren und
entbehrungsreichen Zeiten im ersten Weltkrieg fand er hier den richtigen
Beruhigungston und das Bild für ein tröstliches Heimweh
nach Heimat und ländlichem Glück. Jessel war ein Jude,
der zum Christentum konvertierte und, wie sein Biograph Albrecht
Dümling dokumentierte, eher national gestimmt war. Er ersuchte
mehrfach vergeblich um die Aufnahme in den „Kampfbund für
Deutsche Kultur“, dem der Nazi-Mythologe Alfred Rosenberg
vorstand. Jessel sah sich ferner, wie Dümling schreibt „als
Opfer jüdischer Theaterdirektoren. (…) Die Tatsache,
dass seit 1927 – mit Ausnahme der Operette ,Die Luxuskabine‘
(Leipzig 1932) – kein neues Bühnenwerk von ihm uraufgeführt
worden war, wertete er als Folge gezielter Boykottmaßnahmen.“
Das „Schwarzwaldmädel“ hätte eine, mit kulturästhetischen
Maßstäben gemessen, gute Nazi-Operette werden können.
Die Nordbayerische Zeitung schrieb am 12. März 1933: „An
wirklich köstlicher Walzermelodik nach Wiener Art, unbeeinflusst
von Jazz und Niggerrhythmik, ist kein Mangel.“ Jessel war
aber ein Problem. Denn er gehörte nach nazistischen Begriffen
der falschen Rasse an, da konnte er der nationalsozialistischen
Ideologie so nahe stehen wie er wollte. Zwar wurde noch 1933 das
„Schwarzwaldmädel“ verfilmt, aber nach 1936 verschwanden
auch die allerletzten Aufführungen des „Schwarzwaldmädels“
von den deutschen Bühnen. Aus Jessel hat man keine „Geheimsache“
gemacht. Am 15. Dezember 1941 wurde er schließlich wegen „Verbreitung
von Greuelmärchen“, wegen „Hetze gegen das Reich“
und „Verstoßes gegen das Heimtücke-Gesetz“
zur Gestapo vorgeladen und erlag den dort erfolgten Misshandlungen
wenige Tage später im „Jüdischen Krankenhaus“
am 4. Januar 1942. Im „Dritten Reich“ komponierte man
ein Ersatzstück. Als solches gilt gemeinhin Nico Dostals „Monika“.
Zentrales Problem
Zwei biografische Skizzen, die verschiedenartiger und auch ähnlicher
nicht ausfallen können. Mit der Operette hatte die nazistische
Kulturpolitik ein besonderes, das zentrale Problem ihrer Ideologie
und Praxis schlechthin. Denn die Protagonisten der Operette (Komponisten
und Librettisten, Theaterdirektoren) waren fast durchweg jüdisch.
In einem Brief des Reichsdramaturgen und Berliner Oberregierungsrates
Rainer Schlösser an Reichsminister Joseph Goebbels stellt er
1934 fest: „Bei Machtübernahme war die Lage auf dem Operettenmarkt
so, daß 80 Prozent der Produktion sowohl musikalisch wie textlich
jüdischen Ursprungs war. 10 Prozent war den Komponisten nach
arischen, den Librettisten nach aber ebenfalls jüdischen Ursprungs.
Die rein arischen Werke endlich dürften 10 Prozent nicht überstiegen
haben. Unter diesen Umständen war es nicht möglich, die
jüdischen Bestandteile der Operette restlos auszumerzen.“
Aber in Einzelfällen gelang dies sehr früh, nahezu perfekt,
wie zum Beispiel bei den Werken Paul Abrahams. Durch den rassistischen
Boykott reduzierte sich die Anzahl der Aufführungen seiner
Operette „Die Blume von Hawaii“ von 1.725 in der Spielzeit
1932/33 auf 8 in der nachfolgenden Saison. Ein scharfer und brutaler
Schnitt.
Der Intendant der Staatsoperette Dresden, Wolfgang Schaller stellte
auf der Tagung fest: „Die Nazis haben aus den ideologischen
und Rassegründen die Werke der jüdischen Komponisten geradezu
verteufelt, haben die Komponisten und Librettisten aus dem Land
getrieben und umgebracht und die Werke diskreditiert.“ Neben
die rassische Begründung trat aber auch eine ästhetische:
„Der subversive Witz, der Spaß, die Kritik und das Lachen
der einfachen Leute über die Großen da droben, die Erotik,
die Laszivität – diese ganzen Dinge waren den Nazis suspekt
und danach wurde es ersetzt.“
Vielen Protagonisten, die nicht von den Nazis ermordet wurden,
sondern denen die Emigration oder Flucht gelang, wie zum Beispiel
Ralph Benatzky, Emmerich Kálmán, Paul Abraham oder
Robert Stolz konnten jedoch im amerikanischen Exil kaum einen Fuß
auf den Boden bekommen. In den USA hatte längst eine andere
Musikindustrie sich etabliert. Ganz düster beschrieb das Ralph
Benatzky in seinen Tagebüchern: „Die Mehrzahl der so
genannten Komponisten hier arbeiten nicht in unserem Sinne an ihrer
,Schöpfung’, sondern drei, vier, fünf Musikmacher
setzen sich zusammen und fabrizieren zusammen einen ,Hit’
oder dergleichen. (…) Noch nie habe ich im Radio einen Komponisten
oder Textautor genannt gehört… und von den musikalischen
Autoren von Operetten oder Ähnlichem weiß man in den
allerseltensten Fällen den Namen. Man kennt die bekanntesten
Jazzbandleader, und die meist trostlosen, schlechten Sänger
werden immer wieder genannt. (…) Man ist ein Stein unter Steinen,
ein Niemand unter Niemands…“ (Hollywood 1938). „Seit
meinem Vertrag mit der BMI bekomme ich immer mehr mit der ‚Zunft’
der Lyric-Writer und Musikmacher hier zusammen, und es ist ganz
interessant, wie grundverschieden die hiesige Einstellung zu dem
‚Job’ des Pop-Song (Populäre Lieder-)Schreibers
ist, als in Europa. Dort war es, abgesehen von dem Wiener Bohème
und Alrobi-Verlag, doch noch irgendwie zumindest ein Kunst-Handwerk!
Hier ist es ein ‚Beruf’, der gleich nach Taschendiebstahl
und Pferdestehlen kommt, in keiner Weise künstlerisch oder
gesellschaftlich ernst zu nehmen, und ein Gewerbe, das, wie Zuhältersein,
wohl unter Umständen seinen Mann, aber nur mit obskuren catch-as-catch-can-Griffen
nährt.“ (1941 in New York).
Überwintern konnte die Operette auf diesem Wege auch nicht
recht. Im Gegenteil, man schloss nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
an die durch musikalische Schwindsucht geprägte Operettenkultur
der Nazis wieder an. Ironie des Schicksals: Schon 1945 gab es in
Deutschland 20 Einstudierungen des „Schwarzwaldmädels“,
1946 haben 72 Theater dieses Werk gebracht. Auch die Aufführungstradition
vor 1933 ging weithin verloren. Die Operette der 20er-Jahre pendelte
ästhetisch häufig genug zwischen Cabaret, Revue und Zeitkritik.
Der Mitorganisator der Dresdner Veranstaltung, Kevin Clarke, führte
an zahlreichen Musikbeispielen vor, wie sich der alte Charme, das
Gefühl für Nuancen und die Zwischentöne, aber auch
handfeste erotische Anspielungen nach 1945 verloren haben. Für
Volker Klotz, den Autor der großen Operettenmonographie war
allerdings das Genre der Operette schon in den 20ern einem Verfall
ausgesetzt, der nicht nur in Deutschland festzustellen gewesen sei.
Die Nazis haben alle ausländischen Operettenkomponisten herausgeworfen
und die jüdischen Komponisten verboten. „Damit haben
die Nazis die Operette nur härter kaputtgemacht,“ meint
Volker Klotz. Stefan Frey stimmt dem eingeschränkt zu: „Es
ist zu einfach, zu sagen, der Nationalsozialismus habe die Operette
erledigt. Die Operette wäre auch in der Form nicht mehr weiter
gegangen. Es war auch ein Generationenproblem. Die ganzen arrivierten
Komponisten hätten sich nicht mehr großartig weiterentwickelt.
Der Generationenwechsel, der stattgefunden hätte, hätte
bestimmt in eine andere Richtung stattgefunden, was dann Musical
wurde in Amerika. Einschneidender ist der Bruch in der Aufführungstradition
nach dem Weltkrieg, dass dieser jüdische Witz verloren ging.
Man merkt in sämtlichen Sparten der Unterhaltungsbranche, dass
dieses Niveau nicht mehr erreicht wurde. Alles ist sehr dröge
und humorlos geworden. Und das hat sich auch in den Operetteninszenierungen
gespiegelt.“
In die gleiche Richtung argumentiert auch der Theaterwissenschaftler
Jürgen Gauert: „Die Nazis haben die Operette kaputt gemacht,
indem sie eigentlich das ganze jüdische Genre zerhauen haben.
Sie haben an ihre Stelle Trachtenoperetten gesetzt, Operetten, die
unendlich bieder waren. Das Problem ist, dass in den 50er-Jahren
nicht die silbernen Operetten der jüdischen Komponisten wiederentdeckt
wurden, sondern dass man weiterhin die Nazioperetten gespielt hat.
‚Schäfchen zur linken‘ von Karlheinz Gutheim und
auch Goetze-Operetten wurden bis in die 60er-Jahre gespielt. Von
Kálmán nur die großen Operetten, Leo Fall so
gut wie gar nicht mehr.“ Aber auch institutionell haben sich
die Rahmenbedingungen nach dem Weltkrieg geändert. „Die
Operette war oft an privat geführten Theatern aufgeführt
mit großen Stars. Es gab in Berlin und Wien dutzend Operettenbühnen.
Das gibt es heute nicht mehr.“ So gäbe es heute kaum
noch Anwälte für die Operette an den Theatern selbst.
Aus all dem resultiert, so Gauert, „die Schwierigkeit, sich
in die Gegenwart zu transportieren“.
„Halbvergessene Aufgaben sind zurückgeblieben“,
schrieb Adorno 1962. Der Operette widerfuhr unterm Hakenkreuz eine
nachhaltige Umwandlung und zugleich Vernichtung, deren Folgen bis
in die Gegenwart zu spüren sind. Das ist sehr schade, zeigt
doch die Inszenierung der „Herzogin von Chicago“ von
Kálmán an der Staatsoperette Dresden, wie lebendig
und aktuell die Stoffe sein können. Selten genug geschieht
es im Theater, dass sich neben die zu sehende Inszenierung eine
zweite und dritte eigene stellen kann. Was kann es denn Schöneres
geben, als aus dem Theater zu kommen, sich unterhalten gefühlt
zu haben und zum Weiterdenken und Entziffern von Musik und Text
angeregt worden zu sein.