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nmz-archiv
nmz 2005/06 | Seite 5
54. Jahrgang | Juni
Magazin -
60 Jahre nach Kriegsende
Die zwei Gesichter der europäischen Geschichte
Der Festakt in Moskau anlässlich des 60. Jahrestages des
Kriegsendes aus polnischer Sicht
Der Autor dieses Essays, Jan Topolski, kommt aus Warschau und
ist derzeit Praktikant bei der neuen musikzeitung. Der junge polnische
Musikwissenschaftler ist Chefredakteur der neugegründeten polnischen
Musikzeitschrift „Glissando“ und zur Zeit Stipendiat
des Siemens Art Programm und des Deutschen Musikrates.
Am 8. Mai 1945 war das Ende des Zweiten Weltkrieges. Na ja, erst
am 9. Mai hat ein russischer General von höherem Rang die deutsche
Kapitulation unterschrieben. Aber was ist eigentlich mit dem 4.
Juni 1989? Für viele Polen, die an diesem Tag den ersten demokratischen
Präsidenten nach dem Krieg gewählt haben, und auch für
viele andere Völker, die nach 1945 in den sowjetischen Herrschaftsbereich
geraten waren, ist der vierte Juni mindestens so einschneidend wie
der 8. Mai 1945. Europa hat nicht nur eine einzige Geschichte und
nicht alle Feiertage sind überall von gleicher Bedeutung. Ein
Teil des Kontinents wurde 1943 in Teheran und dann 1945 in Jalta
und Potsdam zwischen den Siegermächten Großbritannien,
USA und der UdSSR aufgeteilt. Das sollte nicht vergessen werden:
Der sechzigste Jahrestag des Kriegsendes hat das auch den Westeuropäern
klar gemacht.
In Polen gab es zum 8. Mai natürlich ein paar Feierlichkeiten:
Etwa in Breslau, wo Präsident Aleksander Kwasniewski, Stadtpräsident
Roman Dutkiewicz und der ehemalige Emigrationsstaatspräsident
Ryszard Kaczorowski an einem Festakt am Samstag, 7. Mai, teilnahmen.
Die Stadt Breslau hat hier Symbolcharakter für Zerstörung
und Aussiedlung: Hier ergaben sich die deutschen Besatzer erst am
6. Mai 1945. Es wurde eine Ausstellung „Breslau 1945-2005”
eröffnet, und es gab ökumenische Gebete auf dem Friedhof
der Opfer vom September 1939, der als Hügelgrab auf den zerstörten
Gebäuden aufgebaut worden war. Am Grab des Unbekannten Soldaten
in Warschau ehrten Premier Marek Belka, Sejmpräsident Longin
Pastusiak, Vertreter aller Waffengattungen, Veteranen, Diplomaten
und Pfadfinder die Opfer des Krieges. Ungenügende Information
der Öffentlichkeit und schlechtes Wetter wurden als Grund für
auffallend geringe Teilnahme der Warschauer Bürger genannt.
Auf der Westerplatte, wo die ersten Salven vom Panzerschiff Schleswig-Holstein
den Kriegsbeginn symbolisierten, gedachten der Erzbischof von Danzig
Taduesz Goclowski, Sejmvizepräsident Donald Tusk und der deutsche
Kriegsmarineinspekteur Lutz Feldt dem Kriegsende. Nach der Feier
wurde das patriotische Lied „Warszawianka“ gesungen.
Während sich die Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik
Deutschland recht früh nach dem Krieg normalisiert hatten,
blieb das Verhältnis mit Russland kompliziert. Russland hat
nie offen den Ribbentrop-Molotov Vertrag bedauert, sich weder für
den Überfall auf Polen am 17. September 1939 schuldig bekannt,
noch für die Okkupation der baltischen Länder. Russland
hatte nie die Ermordung von über 22.000 polnischen Offizieren
in Katyn zugegeben sowie sich nie für Gräueltaten des
Stalin-Regimes (über 20 Millionen Menschen allein in der UdSSR!)
entschuldigt.
Aus diesen Gründen protestierten bereits vor der Abfahrt
von Kwasniewski zur Moskauer Gedenkfeier am Montag, 9. Mai, viele
Leute dagegen mit einer Art von „Antifeiern“. Zum Beispiel
verkleideten sich junge Teilnehmer von Platforma Obywatelska (Bürgerliche
Plattform, laut Umfragen die größte Partei vor den Parlamentswahl,
konservative-rechte Partei) als deutsche und russische Truppen und
inszenierten ein gemeinsames Defilee in Brzesz vom 22. September
1939. Und die Jungen von Prawo i Sprawiedliwosc (Recht und Gerechtigkeit,
zweite Partei laut Umfragen, rechter Flügel) schenkten in Krakau
Fußgängern die Kwasniewski-Bahnkarte ohne Rückfahrt.
Während der Moskauer Feiern demonstrierte eine kleine Gruppe
des Katynkomittees vor der russischen Botschaft in Warschau mit
Fotos der Ermordeten und Plakaten „Aufklären Katyn!“.
Ein echter Sturm der Entrüstung tobte über ganz Polen,
nachdem Präsident Putin in seiner Rede nichts über Polen
und seine Rolle beim Sieg über die Nazis erwähnt hatte,
obwohl er neben den vier Siegermächten eine kleine Gruppe von
Antinazis in Deutschland und Antifaschisten in Italien genannt hatte
(und das, obwohl Frankreich weniger Truppen als Polen gehabt hatte
und kaum Widerstand leistete). Es war aber Polen gewesen, das am
längsten gegen Hitler gekämpft hat (vom 1. September 1939
bis 8. September 1945 und am meisten – im Verhältnis
zu der Bevölkerungszahl – Menschen verloren hat (6 Millionen
Opfer).
Fast alle polnischen Politiker verurteilten diese Rede, ein Teil
auch die Fahrt Kwasniewskis nach Moskau – im Gegensatz zu
ihm belegten alle drei Präsidenten der baltischen Länder
die Moskauer Feierlichkeiten mit Boykott. Die Beurteilungen reichten
von „peinlich und demütigend“ (Donald Tusk, Sejmvizepräsident,
Vorsitzender von PO und Kandidat für das Präsidentenamt),
über „irrtümlich“ und „falsch“
(Andrzej Lepper, Vorsitzender der linksradikalen Samoobrona, Selbstverteidigung,
auch ein Kandidat), bis zu „schockierend“ und „unwahr“
(Tadeusz Mazowiecki, erster postkommunistischer Premier), „beleidigend“
und „geringschätzig“ (Lech Kaczynski, Vorsitzender
von PiS, auch ein Präsidentschaftskandidat), auch Vertreter
des Veteranenverbundes und Katyn-Komitees erklärten diese Rede
für einen Affront und die Defilee in Moskau für „ein
Schauspiel der Verlogenheit“. Nach der späteren Zeitungsumfrage
in „Gazeta Wyborcza“ denken 55 Prozent der Polen ähnlich
und nur 30 Prozent halten die Moskauer Feier nicht für eine
Demütigung Polens. Nicht überrascht waren nur der ehemalige
Präsident und legendäre Solidarnosc Vorsitzender, Lech
Walesa, sowie Professor Norman Davies, die in der Rede Putins ein
Zeichen von sowjetischem, imperialistischem Denken sahen.
Selbstverständlich verteidigte Kwasniewski sich am Dienstag
nach seiner Rückkehr nach Warschau (er hatte doch die Rückfahrkarte).
Auf der Pressekonferenz sagte er, dass Putin viel in kurzer Zeit
zu sagen hatte, dass er sich an der russischen Öffentlichkeit
orientiert hatte und dass außerdem er, Kwasniewski, polnische
Friedhöfe besucht hatte, und sich mit russischen Veteranen
und Forschern des Memorial Instituts (das nach russischen Verbrechen
forscht) getroffen hatte. Wofür sich allerdings russische Medien
nicht besonders interessierten. Auch Außenminister Daniel
Rotfeld bestand darauf, dass diese Fahrt nötig gewesen war
und verteidigte Putin, auch wegen seiner Worte zum Widerstand, die
er speziell an die Regierungspolitiker Deutschlands und Italiens
richtete. Marek Borowski (der Vorsitzende von Socjaldemokracja Polska,
Polnische Sozialdemokratie, auch ein Kandidat für das Präsidentenamt),
schlug vor, ein Institut für Historische Wahrheit neben der
polnischen Botschaft in Moskau zu errichten und ein Forum der Ost-Politik
im Rahmen der EU zu bauen. Aber am wichtigsten scheinen zwei andere
Resolutionen und Reden zu sein. Erstens, was Rotfeld auf der Versammlung
der Vereinten Nationen in New York gesagt hat – dass nicht
für alle der 8. beziehungsweise 9. Mai das Kriegsende bedeutete,
dass es auch eine zweite, nicht weniger wichtige europäische
Geschichtsentwicklung gab. Am Donnerstag, den 12. Mai, verabschiedete
das Europäische Parlament eine wesentliche Resolution, die
davon handelt, dass „für einige Nationen das Ende des
Zweiten Weltkrieges eine nächste, von der stalinistischen Sowjetischen
Union aufgedrängte, Tyrannei bedeutete“ und dass das
Europäische Parlament sich „bewusst von der Größe
der Leiden, Ungerechtigkeit und langwierigen gesellschaftlichen,
politischen und wirtschaftlichen Degradierung, die die gefangenen
Nationen auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs empfunden
haben.“
Auf diese Worte aus Westeuropa wurde sehr lange gewartet. Obwohl
es auch hier nichts über den Ribbentrop-Molotov-Vertrag und
die Hitler-Stalin-Kollaboration gab (um Russen nicht zu reizen,
wie französische Kommunisten und Sozialisten ehrlich sagten),
ist das doch zweifellos ein großer Erfolg der neuen EU-Länder,
deren Vertreter an diesem Tag acht von insgesamt 16 Reden gehalten
haben (vier davon von Polen). Aber dieser „Krieg um Erinnerung“
ist noch zu gewinnen, wie die letzte Presseaffäre in Großbritannien,
Frankreich, aber auch in Deutschland (Bild, Der Spiegel) zeigte,
wo über „polnische Konzentrationslager“ berichtet
wurde. Dieser „Krieg“ um die wahre Bewertung der Stalin-
und UdSSR-Ära wird in nächster Zeit vor allem mit Russland
geführt werden. Hoffen wir, dass er weder „heiß“
noch „kalt“, sondern ein partnerschaftliches Gespräch
wird.