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nmz 2005/06 | Seite 7-9
54. Jahrgang | Juni
Magazin -
Neue Kammermusik

Bibel und Bilder klingen

Die Wittener Tage für neue Kammermusik · Von Gerhard Rohde

Was heißt heute Kammermusik? Das stillvergnügte Streichquartett als geistvolle musikalische Unterhaltung von vier gleichgestimmten Herren und/oder Damen scheint in weite Fernen entschwunden. In Witten an der Ruhr, bei den traditionsreichen Tagen für neue Kammermusik, erkundet man unermüdlich Jahr für Jahr unbekannte oder wenig erforschte Klanglandschaften, und die Komponisten, junge bis arrivierte, konstruieren für die Such- und Schürfarbeit die notwendigen „Geräte“ in Gestalt neuer Kompositionen.

Im klingenden „Nacht-(Glas)-Labor“ von Manos Tsangaris im Haus Witten. Beide Fotos: Charlotte Oswald

Im klingenden „Nacht-(Glas)-Labor“ von Manos Tsangaris im Haus Witten. Beide Fotos: Charlotte Oswald

Das Genre der Kammermusik erfährt dabei oft bemerkenswerte Erweiterungen der Ausdrucksmittel. Installation, Performance, Live-Elektronik und Raumklang gehören ebenso dazu wie theatralische Aktionen oder literarische Elemente, ja sogar ein richtiges Haus darf es in Witten sein: eine intelligent restaurierte Burgruine, in der nun Volkshochschule, Musikschule und ein Kino unter anderem residieren. Sie wird von den Kammermusiktagen immer wieder für größere Spielaktionen genutzt.

Als Virtuose für die Bespielung des „Hauses Witten“ – so der offizielle Name – präsentiert sich vor allem der Kölner Komponist, Dichter, bildende Künstler und Theatermacher Manos Tsangaris. Schon einmal hat er Haus Witten mit einem Projekt namens „winzig“ in (fast) allen Räumen und auf den Fluren, sogar im Lift, mit musikalisch-theatralischen Aktionen gleich-sam „gefüllt“: sehr fantasievoll, poetisch, intelligent. Jetzt gab Tsangaris seinem neuen Haus-Witten-Projekt den sachlichen Titel „Labor“, mit einem zentralen „Nacht-Labor“, dem zweiteiligen „Labor im Licht“ sowie mehreren festen Installationen und kleinen Kabinetten mit „lebenden Bildern“. Ein regelrechter Tsangaris-Kosmos tat sich da auf, wozu auch noch die Running Gags in einigen anderen Konzerten gehörten: kurze, sketchartige musikalische und theatralische Miniaturen von unterschiedlicher Qua-lität, die beim Publikum für Irritationen sorgen sollten. Im „Nacht-Labor“, in das jeweils nur zwanzig Personen eintreten durften, erfuhr man Tsangaris’ Intentionen am plastischsten: ein hochästhetisches Changieren von Innen- und Außenräumen, getrennt durch die gläsernen Wände des fast kubischen Saales, durch die man auf die alten Steinmauern der Ruine blickt. Das Publikum wechselt zwischen diesen Zonen. Auf die Organisation der Räume reagiert Tsangaris sensibel mit Lichteffekten, Klängen, Vokalisen, Texten – von einer Sängerin, Sprechern sowie Instrumentalisten vorgetragen. Es wird keine Geschichte erzählt, nichts Bedeutungsschwangeres annonciert – alles ist vielmehr ein freies Spiel, ein virtuoses Jonglieren mit Materialien und Ausdrucksmitteln, ein abstraktes Musiktheater sozusagen, mit dem künftige Möglichkeiten eines musikalisierten Theaterspielens erkundet werden. In der Neue-Musik-Szene gehört Manos Tsangaris zu den originellsten Köpfen, wozu auch eine fast romantische Versponnenheit gehört, die sich mit Hellsichtigkeit verbindet. Was sich neben dem Tsangaris-Progetto in den sechs Konzerten des dreitägigen Festivals ereignete, bewies einmal mehr, wie differenziert inzwi- schen die Szene der neuen Kammermusik geworden ist. Das Materialdenken und Materialerkunden tritt dabei zunehmend in den Hintergrund.

Es interessieren wieder mehr so genannte „Inhalte“, wobei dem Religiösen und Metaphysischen, für manche sicher überraschend, wieder neue Bedeutung zuwächst. So verweist der 1964 in Paris geborene, jetzt in Berlin lebende Mark André mit dem Titel „durch“ für seine Komposition für Saxophon, Schlagzeug und Klavier unmittelbar auf eine Stelle aus dem Lukas-Evangelium, wo der „Herr“ auf die Frage nach dem „Seligwerden“ antwortet: „Ringt darum, daß ihr durch die enge Pforte hineingeht, denn viele werden danach trachten, wie sie hineinkommen, und werden’s nicht können.“ Mark André „übersetzt“ den metaphysischen Aspekt bei Lukas in subtil ausgehörte Klänge, die in den leisen Passagen bis zum Geräuschhaften tendieren. Es strahlt eine große Energie von jedem einzelnen Ton, jedem Klang aus. Die drei Instrumente werden in ihren Spielweisen so ausdifferenziert, dass ihre Klangspektren wie Seismographen erscheinen, mit denen die „Spuren“ des Textes ertastet werden. Marcus Weiss (Saxophon), Christian Dierstein (Schlagzeug) und Yukiko Sugawara (Klavier) realisierten das anspruchsvolle Werk mit atemverschlagender Intensität und Präzision. Metaphysische Aspekte bietet auch Younghi Pagh-Paan in ihrem Ensemblestück „Wundgeträumt“, in dem sie der ostasiatischen Vorstellung einer Ganzheit von Traum, Leben und Tod, Wirklichkeit und Schöpfung mit expressiven Klängen und kraftvollem Gestus huldigt: eine sehr persönliche Musik.

Religiöse Vorlagen inspirierten auch den englischen Komponisten Jonathan Harvey: In seinem „Death of Light/Light of Death“ fasst er fünf Figuren auf Grünewalds „Isenheimer Altar“ in ebenso viele instrumentale Charakterstücke, sehr plastisch und genau komponiert. Harvey kontrastiert in seinem „String Trio“ einen „rustikalen“ mit einem „heiligen“ Musiktyp aus seinem liturgischen Drama „Passion and Resurrection“, was einen leicht schematischen Eindruck hinterlässt, so engagiert auch das Trio Recherche die Uraufführung präsentierte. Das bildnerische Schaffen scheint überhaupt die Komponisten zu inspirieren. Der Franzose Hugues Dufourt überträgt Tiepolos „L’Afrique“-Gemälde aus der Würzburger Residenz auf acht Instrumente, die in raffinierter Führung und Setzung die Farben, Formen und Bewegungen des Bildes kontrastreich musikalisch reflektieren. Der Italiener Ivan Fedele unternimmt dasselbe mit den geometrisierenden Verwirrbildern von Maurits Cornelis Escher – perfekt unterstützt von den superben Interpreten des ensemble recherche.

Die Partitur ist maßgebend: Georg Friedrich Haas bei einer Probe

Die Partitur ist maßgebend: Georg Friedrich Haas bei einer Probe

Aus außermusikalischen Anregungen lassen sich aber auch großformatige, gleichsam autonome Werke gewinnen: In „Haiku“ für Bariton und Ensemble von Georg Friedrich Haas evoziert ein japanischer Zweizeiler die Stimme zu extremen Ausdrucksweiten – das besitzt eine enorme innere Spannkraft. Der junge Litauer Vykintas Baltakas gewinnt aus der Vorstellung fallender Steine im Gebirge die Bewegungen für seinen Liedzyklus „Ouroboros“ für Sopran, Ensemble und Zuspielband.

Einen faszinierenden Eindruck hinterließ in Witten Salvatore Sciarrino mit seinem zwölfteiligen Vokalzyklus „Quaderno di strada“. Vom Klangforum Wien unter Johannes Kalitzke meisterhaft gespielt, vom Bariton Otto Katzameier souverän gesungen, demonstrierte das Werk die hohe Kunst Sciarrinos, Musik und Sprache auf das beweglichste zu verbinden und dem Klang Raum zu schaffen, in dem er sowohl sich ausdehnen als auch bis zur Unhörbarkeit verhauchen kann. Wie komplex Sciarrinos Arbeits- und Schöpfungsprozesse verlaufen, geht anschaulich aus seinen eigenen Notizen hervor. Zu „Quaderno di strada“ schreibt er im einmal mehr mustergültig und informativ gestalteten Programmbuch der Wittener Kammermusiktage: „Wir werden von der Musik bis an die Schwelle der Stille geführt, wo unser Ohr sich schärft und der Geist sich jeglichem Klangereignis öffnet, als würde er es zum ersten Mal hören. Die Wahrnehmung wird so erneuert und das Zuhören zu einem emotionalen Ereignis. Sollten wir eine solche Erfahrung als direkte (oder tiefe) Kommunikation bezeichnen? Ohne auf Orpheus und die mythischen Ursprünge der Musik zurückzugreifen, muss man hier wohl Disziplinen heranziehen, die der Musikwissenschaft derzeit fern liegen: die Psychoakustik, die Musiktherapie oder die Studien über die Sprache der Tiere. Der Zweck eines Notizheftes ist auch seine Bestimmung: sich mit Wörtern und Zeichen zu füllen. Oder: Wenn man die Welt entdeckt hat, beschlossen hat, einen kleinen Teil davon für sich zu behalten, wird das Heft geschlossen und beiseite gelegt. Aus den Trümmern verlorengegangener Gesamtheiten bilden sich weitere Zusammenhänge, andere Wege. Daraus schöpfe ich die Mittel, um meine Musik zu schaffen und diese Titel, die so viele Leute überraschen. Ich habe zahlreiche Zeitschriftenmagazine. Was ich sammle, hat nicht nur literarische Ursprünge, sondern ist oft Mündliches, stammt aus Inschriften oder Graffitis an Wänden. Das Heft begleitet mich jeden Tag und ergänzt sich in der Metapher der Reise. Wir könnten einem Fehler erliegen, würden wir glauben, dass diese Metapher uns überall hin folgt; nein, wir sind – vielleicht – ihr Schatten.“

Dieses Schattenhafte wirkt auf geheimnisvolle Weise fast palimpsestartig: Was kommt zum Vorschein, wenn man den Schatten ablöst? Die Figur, die ihn erzeugt? Oder: verschwindet der Schatten, wenn man die Figur ablöst? Das Spiel mit einer „Frau ohne Schatten“? Natürlich ohne die Symbolik Hofmannsthals in der Strauss-Oper. Dieses Denken und Arbeiten in Schichten, deren Ablösungen, Auffaltungen, Übermalungen fand sich in etlichen Werken des diesjährigen u u Programms. Harry Vogt, zuständiger Redakteur für die Wittener Musiktage, filterte aus dieser Palimpsest-Ästhetik sogar so etwas wie das „Thema“ für die Werkfolge heraus. Als besonders signifikantes Beispiel nennt er dafür das „Songbook“ von Bernhard Lang – für Stimme, Saxophon, Keyboards und Schlagzeug, nach Popsong-Texten von Bob Dylan, Peter Hammill, Dieter Sperl, Amon Düül 2 und Robert Creeley. Bernhard Lang zerlegt, zertrümmert die Songs, die Texte. Deren Fragmente liegen herum, wie „Splitter eines Spiegels, die Originale als Vielheit reflektierend“ (Zitat Lang). Zu dieser neuen Splitter-Struktur fügt Bernhard Lang eine neue, eigene Musik, in der die Originale hier und da noch durchschimmern, mehr als Ahnung und Geste denn als Zitat. In der Interpretation wiederum durch das trio acanto mit dem fabulös agierenden Saxophonisten Marcus Weiss, Christian Dierstein am Schlagzeug, Yukiko Sugawara (Keyboards) sowie der Mezzosopranistin Jenny Renate Wicke überzeugte Bernhard Langs „Songbook“ durch seine plastische improvisatorische Geste, durch Vitalität und kompositorische Intelligenz.

Als ein regelrechtes Forschungsprojekt präsentierte sich in Witten ein Stück für Posaune und Kammer-Elektronik von Marco Stroppa: „I will not kiss your fucking flag“ – den Titel entnahm der Komponist einem Antikriegsgedicht von E.E. Cummings, das 1913 entstand. Stroppa bekennt sich ausdrücklich zu der politischen Aussage des Gedichts, die er zugleich für die Gegenwart reklamiert. Neben der confessio bietet Stroppas neues Werk aber auch kompositorische Perspektiven: es ist der dritte Teil eines Zyklus, bei dem sich der Komponist mit der von ihm kreierten Form einer „Kammer-Elektronik“ beschäftigt: „Ein Solo-Instrument tritt mit einem anderen „unsichtbaren“ Partner in eine musikalische Beziehung. Zu diesem Zweck wurde eigens eine „erweiterte Posaune“ am Ircam-Institut in Paris entwickelt: Mit Hilfe eines Lasers kann die Position des Posaunenzuges verfolgt und an einen Computer gesendet werden. So kann das Instrument verschiedene Aspekte der Elektronik steuern, indem einfach der Zug bewegt wird. Wie auch in den anderen Stücken des Zyklus‘ wird ein Raum gestaltet, in dem sich sowohl der Interpret als auch die Elektronik entfalten“ (Beschreibung vom Komponisten).

Neben dem politischen Engagement und dem technischen Aspekt kommt aber auch noch die Palimpsest-Thematik zum Zuge: Als musikalisches Material greift Stroppa auf „ethnomusikalische Traditionen“ zurück und nennt als Beispiele die der Wayapi aus Französisch-Guayana, die von zentralafrikanischen Pygmäen und serbischen Zigeunerblaskapellen. Die kompositorische Kunst nun besteht darin, die Quellen so zu „transformieren“, dass man sie nicht mehr wahrnehmen kann, zumindest nicht unmittelbar. Das klingt zunächst einmal leicht überdreht, das klingende Ergebnis aber überzeugt durch Variabilität und Vielfalt der Klangbrechungen im Raum, genauer: in der Kammer. Zum Schluss verrät der Komponist noch, dass viele Forscher an der Realisierung des Werkes beteiligt gewesen seien – was kaum zu bezweifeln ist.

Was bei einem Festival mit Neuer Musik und vielen Uraufführungen in Kritiken meist zu kurz kommt, sind die Interpreten. Man geht davon aus, dass diese schon ihr Handwerk verstehen. In der Regel ist es ja auch so. Gleichwohl möchte man an dieser Stelle einmal feststellen, dass das interpretatorische Niveau der diesjährigen Wittener Tage für neue Kammermusik besonders hoch war. Das Klangforum Wien unter der Leitung von Johannes Kalitzke befand sich gleichsam im Dauereinsatz: Zuerst stellte es eine in seinem Auftrag entstandene Komposition von Reinhard Fuchs vor: „descrittivi di stati d‘animo di Didone“ (für Ensemble). Die Interpretation des Sciarrino-Zyklus durch das Klangforum wurde schon erwähnt. Außerdem spielte das Ensemble, wieder unter Kalitzke, die Uraufführungen von Georg Friedrich Haas und Vykintas Baltakas (siehe weiter oben) sowie ein neues Werk von Pierluigi Billone („TA.un Lied di meno“) – die Darstellung schien nicht die Zustimmung des Komponisten zu finden, er wirkte bei seiner einmaligen Verneigung beim Schlussbeifall kurz angebunden, mürrisch. Das Klangforum Wien, Billone hin und her, agiert insgesamt auf einem so hohen Standard, dass man geneigt ist, es als das derzeit kompetenteste Ensemble für die Darstellung avantgardistischer neuer Werke zu bezeichnen – trotz der Konkurrenten aus Frankfurt oder Paris.

Apropos Paris: Solisten des Ensemble Intercontemporain waren auch wieder einmal nach Witten gekommen. Sie spielten Werke von Michael Jarrell, Pedro Amarail, Jonathan Harvey und Emmanuel Nunes – mit der ihnen eigenen, fast schon klassischen Souveränität: Neue Musik in Marmor gehauen. Von solcherart Marmorierung ist das in Freiburg seit zwanzig Jahren (bald ist „Geburtstag“: am 11. und 12. Juni 2005 feiert man daheim mit vielen Konzerten, Programm liegt vor) beheimatete „ensemble recherche“ unverändert weit entfernt. Seine Musiker und Musikerinnen stürzen sich als Ensemble, als Trio, solistisch in alles, was neu und schwierig ist. Ivan Fedele und Hugues Dufour spielen sie ebenso engagiert und kompetent wie Jonathan Harvey und Younghi Pagh-Paan.

Gerhard Rohde

 

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