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nmz-archiv
nmz 2005/06 | Seite 12
54. Jahrgang | Juni
Nachschlag
Beginn danach
So viel Kriegsende war noch nie. Hier also was anderes, nämlich
der Nachkriegsanfang. Für die Musik war das ein bedeutendes
Datum. Weniger wohl für die anderen Kunstrichtungen: zum Beispiel
fand Adornos Diktum, dass nach Auschwitz kein lyrisches Gedicht
mehr geschrieben werden könne, in der Literatur kaum einen
nachhaltigen Niederschlag. Und kann man in der Malerei einen durchschlagenden
Wechsel nach dem Zweiten Weltkrieg festmachen? In der Musik war
das so.
Vor allem in Deutschland mit Donaueschingen und Darmstadt wurde
Tabula rasa gemacht – nicht nur von deutschen Komponisten,
aber Boulez, Nono, Cage oder auch Ligeti kamen hierher und tauschten
sich aus, wie auf grundlegend neuer Basis in Musik zu denken sei
(anders als in der „Gruppe 49“, die auf der einen Seite
vornehmlich deutschen Autoren vorbehalten war, die auf der anderen
Seite kaum über ein neues Basismaterial des Schreibens debattierte).
Musik ist eben anders, sie unterliegt anderen Produktions- und
Reproduktionsbedingungen als die weiteren Künste. Und nach
1945 gab es einen gewaltigen Freiraum. Zum einen waren die alten
Nazis, wie etwa der für die Entartete Kunst/Musik-Ausstellungen
im Dritten Reich verantwortliche Hans Severus Ziegler, für
einige Zeit zum Schweigen gebracht (oder sie waren damit beschäftigt,
sich neue, entnazifizierte Positionen zu schaffen), zum anderen
standen die Produktionsmittel, also zum Beispiel die Orchester vor
allem in den neu etablierten und modellhaft gedachten öffentlich
rechtlichen Rundfunkanstalten, der Neuen Musik offen, da jeder Einwand
dagegen in dunkle Vergangenheit gewiesen hätte.
Die Komponisten konnten also im Grunde schreiben was sie wollten.
Das gaukelten sie sich zwar zumindest seit bürgerlicher Zeit
immer vor, aber es war nicht so. Jetzt aber entstand von den jungen
Avantgardisten wirklich eine Musik, die von vielen Schlacken gereinigt
war. Dass sie dadurch unnahbar wurde, musste die Komponisten damals
nicht stören, denn die Vermittlungswege standen dennoch offen.
Die serielle Musik tilgte alles Warme, Gefühlige, Ausdrucksintensive
aus der alten Musik. Der pure Ton, der pure Klang, das pure Zeitmaß
und die klar messbare Intensität standen als einzige in den
inneren Zirkeln der Avantgarde zur Debatte. Es war ein Purgatorium
im Sinne des Wortes.
Froh konnten die Musiker, die Komponisten auf Dauer damit nicht
werden: Schon Ende der 50er-Jahre nagten die Zweifel und die folgende
Generation warf alles wieder über den Haufen (oder doch nicht
alles? – denn schnell ging den postmodernen Bestrebungen ihrerseits
die Luft aus). Aber dennoch hatten sie etwas geschaffen, das die
Musik seither kaum mehr ruhen lässt. (Mit Marx könnte
man sagen: Sie wussten es nicht, aber sie taten es.) Es entstand
nämlich, und erst heute beginnen wir das umfassend zu begreifen,
ein neuer Begriff von Musik und von musikalischem Tun. Er beinhaltet,
dass kein Musiker einen Ton, einen Klang, eine Lautstärke mehr
schreiben kann, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, warum
und in welcher Form er einen Ton, einen Klang et cetera schreibt.
Helmut Lachenmann hat vielleicht am meisten theoretisch fundiert
diesen Vorgang des Neu-Erarbeitens zu seinem Schöpfungsprinzip
erhoben – aber am Faktum kommt im Grunde keiner vorbei. Und
ein Vorbeimogeln oder ein blindes Nicht-Sehen-Wollen ist zumeist
Indiz für Insuffizienzen im musikalischen Produkt. Langsam
sind Konturen absehbar, die neue Musik öffnet sich und vielleicht
wird man in einigen Jahrzehnten von einem Phönix aus der Asche
sprechen. Während die Welt heute, mit welchen Vorgaben, mit
welchen Interessen auch immer, des Kriegsendes gedenkt, dürfen
wir Musiker (denn an vielen anderen Orten wurde schon bald weitergewurstelt
wie davor und wie immer) an ein weiteres Datum erinnern: an den
Beginn danach.