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nmz-archiv
nmz 2005/06 | Seite 41
54. Jahrgang | Juni
Bücher
Verfertigung einer Faszination
Dieter Hildebrandt hat den ewigen Kassenschlager „Ode an
die Freude“ gründlich untersucht
Dieter Hildebrandt: Die Neunte. Schiller, Beethoven und
die Geschichte eines musikalischen Welterfolges, Carl Hanser
Verlag, München/Wien 2005, 367 S., Abb., € 24,90, ISBN
3-466-20585-3
Sie mobilisiert die Massen, ob in China, Bad Münstereifel
oder New York. Wo Beethovens Neunte auf dem Programm erscheint,
geraten die Menschen in Festtagsstimmung, schwärmen aus, um
dem Ereignis beizuwohnen. Die Neunte tönt überall, als
Europahymne oder auf dem Handy. Musik wird Kult. Musik wirkt wie
Mode. Doch ist sie zeitlos. Was ist dran an diesem Zauber um die
„Ode an die Freude“?
Verwundertes Kopfkratzen
Analysen und Untersuchungen zu diesem Thema sind so alt wie die
Neunte selbst. Schon bei der Uraufführung kratzten sich einige
verwundert den Kopf: eine Sinfonie mit Chor und Solisten? Aus den
90er-Jahren des 20. Jahrhunderts sind zwei umfangreiche Arbeiten
zu erwähnen. Sechs Jahre nach Andreas Eichhorns Studie „Beethovens
neunte Symphonie. Die Geschichte ihrer Aufführung und Rezeption“
erschien 1999 in Frankreich ein Buch unter dem Titel „La Neuvième
de Beethoven. Une histoire politique“ – Beethovens Neunte,
eine politische Geschichte. Darin zeichnete der Musikwissenschaftler
Esteban Bach die Geschichte dieser Sinfonie von ihren Anfängen
über ihre Rezeption bei Berlioz und Wagner bis hin zur Umformung
durch Lenny Bernstein 1989 als „Ode an die Freiheit“
nach.
Ähnlich geht auch Hildebrandt vor. Allerdings nimmt er Schiller
mit ins Boot seiner Untersuchung: „Dieses Buch versucht sich
an einer Neugewinnung aus den Anfängen. Es geht der allmählichen
Verfertigung einer Faszination nach, versucht sich an der Beschreibung
einer Kultkarriere. Es ist kein musikwissenschaftlicher Versuch
und kein Beethoven-Hymnus und will auch keine Andacht vor dem eben
erst erklärten Nimbus des ‚Weltkulturerbes‘ verrichten.
Es tastet sich an die Kräfte heran, aus denen sich die sensationelle
Wirkungsgeschichte herleiten läßt. An etwas, was hier
das Schiller-Beethoven-Komplott genannt werden soll.“ Was
Hildebrandt im Vorwort als Ziel vorgibt, löst er auch ein.
Gewiss ließen sich einige Ungenauigkeiten anführen, falsche
Orchesterbezeichnung etwa oder Irritationen in der Namensorthographie;
auch stellen wir fest, dass, je näher Hildebrandt die Gegenwart
ins Visier nimmt, seine Ausführungen zur Rezeption der Neunten
mit immer größeren Lücken behaftet sind. Aber vielleicht
liegt das sogar in der Natur des Themas.
Denn Hildebrandt packt die „Ode“ bei ihren Wurzeln
an. Knapp die Hälfte seines Buches ist im steten Wechsel den
Entstehungsgeschichten des Schillerschen Textes und der Sinfonie
Beethovens gewidmet. Lediglich die zweite Hälfte gilt der Rezeption.
Die erfreulich knapp gehaltenen Anmerkungen befinden sich gebündelt
am Ende des Bandes, dessen Handhabung ein – ebenfalls fehlerhaftes
– Register erleichtert. Im Ganzen aber ist es ein Buch zum
Verlieben. Hildebrandt versteht sich aufs Plaudern – das wissen
wir aus seinen bisherigen Publikationen. Nicht im Sinne des Einfach-so-Dahingesagten,
sondern verstanden als kultivierte Unterhaltung.
Lust am Erzählen
Immer wieder zeigt sich Hildebrandts Lust am Erzählen und
dies in Verbindung mit der Genauigkeit in inhaltlichen Fragen. Als
Beispiel möge jene Stelle dienen, in der Hildebrandt auf das
Verbot zu sprechen kommt, mit dem Herzog Carl Eugen seinem Zögling
Schiller das „Comödien“-Schreiben verboten hat.
In kunstvoll dialektischer Weise fasst Hildebrandt die persönliche
Situation Schillers damals und die Rezeption durch die Nachwelt
zusammen: „Mit diesem Verbot verhalf Carl Eugen Schiller zum
wichtigsten Entschluß seines Lebens. Er katapultierte ihn
hinaus ins Elend und in den Ruhm, in die notdürftigste Existenz
und in die Überlebensgröße, in den Status des Outlaws
und in den Rang des Klassikers.“
Ein Vorteil Hildebrandts ist sicher seine Außen-Perspektive:
Er darf den Finger auf die Wunden der Musikwissenschaft legen, wenn
er Beispiele aus vertrackt-verklausulierten Analysen zitiert und
dann zu dem knappen Schluss kommt: „Solche hochgestochene
Metaphorik spiegelt eine elementare Verlegenheit.“
Wenn Hildebrandt der Frage nachgeht, ob an dem Gerücht, wonach
Schiller seinen Text eigentlich „Ode an die Freiheit“
nennen wollte, etwas dran sei, entwirft er ein feines philologisches
Netz, gespickt mit Details aus der Forschung und Thesen des gesunden
Menschenverstandes. Spannend wie ein Krimi.