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nmz 2005/06 | Seite 37
54. Jahrgang | Juni
Rezensionen

Stolzer Sonderweg

Britische Orchester- und Vokalmusik

Die englische Musik sank nach dem Tode Purcells in eine Art Dornröschenschlaf, aus dem sie erst 200 Jahre später, dann aber mit Macht erwachte. Bis in die jüngste Zeit unterscheidet sich die Musik, die auf den Britischen Inseln geschrieben wird, jedoch deutlich von den Werken „kontinentaler“ Komponisten. Was der ehemaligen kolonialen Weltmacht lange Zeit als „Rückständigkeit“ angekreidet wurde, muss vielmehr als Sonderweg hin zu einer stilistischen Eigenständigkeit interpretiert werden. Die britischen Tonsetzer hielten trotz Beobachtung der Vorgänge im Ausland unbeirrt an ihrer Tradition fest und nahmen nur zaghaft fremde Einflüsse auf. Mit anderen Worten: Die Spätromantik regierte in Großbritannien bis nach dem Zweiten Weltkrieg so unangefochten, dass die Tragfähigkeit der Funktionsharmonik nie ernsthaft in Frage gestellt wurde, mit dem positiven Nebeneffekt, dass man zu ihr niemals kleinlaut, reumütig und vielleicht ironisch verbrämt zurückzukehren brauchte.

Doch der Weg zu wirklich großer Musik war in England dennoch steinig. Zwei der bedeutendsten Kompositionslehrer liefern hierzu das beste Beispiel: Charles Villiers Stanford schuf 1897 eine ausgewachsene Totenmesse, die sich bestimmt herrlich singt, jedoch so einförmig idyllisch und feierlich geriet, dass sich der Hörer selbst dann bald langweilt, wenn er die Requiem-Vertonungen von Berlioz oder Verdi aus seiner Erinnerung verbannt. Und der um eine Generation jüngere Frank Bridge (der allerdings nur Britten unterrichtete) schrieb kurz nach Debussys „La mer“ die monumentale Suite „The Sea“, die in ihrer handwerklich gediegenen, aber ästhetisch platten Eins-zu-eins-Abbildung von Naturphänomenen Filmmusiken Hollywoods um Jahrzehnte vorwegnimmt und nur noch von seinen unsäglich eintönigen Beiträgen zur absoluten Musik unterboten wird, welche auch die engagierten Interpretationen der von Richard Hickox dirigierten Chandos-Serie nicht retten können. Über Bridgas uninspirierte „Oration (Concerto elegiaco)“ für Cello und Orchester etwa kann nur Elgars in jeder Hinsicht dankbares Konzert hinwegtrösten, das jetzt in einer zündenden, jedoch mit einigen weniger zwingenden Werken gekoppelten Neueinspielung durch Heinrich Schiff und das Halle Orchestra vorliegt. Dass Elgars Talent sich schon früh zeigte, belegen die beiden Suiten namens „The Wand Of Youth“ („Der Zauberstab der Jugend“). In ihnen greift der 50-jährige Elgar auf Melodien zurück, die er als Kind für ein Theaterstück erfand, das er mit seinen Geschwistern aufführte. Als ideale Abrundung dieses im besten Sinne unterhaltenden CD-Programms wählte James Judd „Dream Children“ von 1902 und die „Nursery Suite“ („Kinderzimmersuite“), den letzten, nostalgischen Rückblick des schon greisen Komponisten auf seine Kindertage: alles entzückende, unprätentiöse, dabei frech orchestrierte, wie bester Tschaikowsky tänzerische Stücke, in denen es Elgar gelingt, die Welt nochmals mit den neugierigen Augen eines Kindes zu betrachten.

Nur fünf Jahre jünger als Elgar war Frederick Delius (1862–1934), von dem einige attraktive Orchesterstücke bis heute im Repertoire verblieben – darunter „The Walk To The Paradise Garden“. Nur wenige wissen, dass es sich um eine nachkomponierte Szene aus Delius‘ 1907 in Berlin auf deutsch uraufgeführter Oper „A Village Romeo and Juliet“ handelt. „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ nach Gottfried Kellers „Die Leute von Seldwyla“ liegt in der Berliner Fassung auf cpo vor; bei Naxos Historical tauchte jetzt die erste, 1948 realisierte Gesamteinspielung einer Delius-Oper aus der Versenkung auf, und bei dieser Gelegenheit erweist sich „A Village Romeo and Juliet“ als süffiges, mit 100 Minuten Länge angenehm kompaktes Wagner’-sches Musikdrama, das nur durch das englischsprachige Originallibretto aus Delius‘ Feder leicht verfremdet wirkt. Dies ist übrigens bereits die vierte Folge mit Delius-Aufnahmen des großen Thomas Beecham, dessen mit impressionistischem Parfüm bestäubte Dirigate erstmals demonstrierten, was in Delius‘ nur kärglich kommentierten Partituren für farbige, ansprechende Musik verborgen ist. Überhaupt scheint mir, dass er in der Vokalmusik sein Bestes gegeben hat – ich erinnere nur an „Sea Drift“ für Bariton und Orchester (Folge 2). Eine randvoll bespielte CD bringt uns vier Orchesterwerke des weitgehend vergessenen John Foulds näher: „Lyra Celtica“, ein leider unvollendetes Konzert für Stimme und Orchester, schrieb Foulds um 1920 für seine Frau, die irische Geigerin und Sängerin Maud MacCarthy, die eine große Affinität zum mittleren Osten hatte und mit den Skalen, Mikrotönen und Glissandi der indischen Musik bestens zurechtkam. Schließlich siedelte die Familie nach Indien um, wo Foulds an einer Fusion zwischen westlicher und östlicher Musik arbeitete und im Jahre 1939 an der Cholera starb.

Der ausschließlich Vokalisen in den verschiedensten, sich teils überlappenden Tonsystemen singenden Mezzosopranistin wird über eine Viertelstunde hinweg einiges abverlangt, was Susan Bickley hier scheinbar mühelos bewältigt. „Apotheosis (Elegy)“, eine dem Andenken Joseph Joachims zugeeignete Trauermusik in Form eines Violinkonzerts, und das Orchesterstück „Mirage“ gehören zur vor dem Krieg entstandenen Serie der „music-poems“, die statt in Sätze in Strophen gegliedert und noch überwiegend in Straussens spätromantischem Idiom gehalten sind. Zwischen 1919 und 1930 schließlich schrieb Foulds „Three Mantras“, ursprünglich die Einleitungen zu den Akten seiner Oper „Avatara“. Während er diese gezielt vernichtete, müssen andere seiner kaum aufgeführten und noch seltener gedruckten Werke als verloren gelten. Naxos ermöglicht uns die Bekanntschaft mit einem Oratorium von bescheidenen Ausmaßen, aber hohem künstlerischen Wert: William Waltons 1931 vollendetem „Belshazzar‘s Feast“, das in der verdienstvollen Walton-Serie der English Northern Philharmonia unter Paul Daniel erscheint. Die drei hierfür herangezogenen Chöre liefern eine packende, fast zu schnell vorüberziehende Darstellung der Episode aus dem Buch Daniel („mene, mene tekel…“), die 200 Jahre früher bereits den Stoff für ein Händel-Oratorium lieferte. Wem Simon Rattles Referenz-Aufnahme (EMI) zu teuer ist, darf hier getrost zugreifen. Die maßstäbliche Einspielung von Waltons Cellokonzert von 1956 entstand nur drei Tage nach der Uraufführung – mit dem Widmungsträger Gregor Piatigorsky und dem Boston Symphony Orchestra unter Charles Munch. Anklänge an Weills Song „Speak Low“ im Solopart und die exquisite Orchestrierung, die an hochwertige Filmmusik erinnert (die Walton auch schrieb), bleiben im Ohr. Die selbst im Stereo-Modus betörend klingende, damals dreikanalig aufgenommene Living-Stereo-Produktion liegt jetzt zum Mid Price als Hybrid-SACD vor, attraktiv gekoppelt mit Dvoráks Gattungsbeitrag.

Die Orchestermusik von Lennox Berkeley (1903-89) wird gerade bei Chandos eingespielt; über seine geistliche Chormusik verschafft eine Produktion mit dem Chor von St. John‘s College, Cambridge einen ausgezeichneten Überblick. Sie enthält neben kleineren, teils für solistische Knabensoprane bestimmten Motetten (am berührendsten: „The Lord Is My Shepherd“) zwei knappe, aber vollständige Messvertonungen. Die zwischen 1945 und 1980 in einem erfreulich frischen und durchhörbaren, moderat modernen Idiom geschriebenen Werke entstanden teils als Kompositionsaufträge dieser vorzüglichen Sängerschar, die für Naxos eine ganze Serie mit Chormusik englischer Komponisten verantwortet.

Zu den wichtigsten britischen Vokalwerken des 20. Jahrhunderts zählt das 1944 uraufgeführte Oratorium „A Child Of Our Time“ von Michael Tippett. Mehr noch als Brittens „War Requiem“ ist es eine künstlerisch eigenständige Reaktion auf die Zeitläufe. Obgleich sich Tippett Bachs Passionen und Händels „Messias“ zum Vorbild nahm, ersetzen hier in einem ingeniösen Schachzug Negro Spirituals die Choräle und philosophisch-psychologische Reflexionen des Komponisten das Bibelwort. Leider wirkt die Sopranistin etwas überfordert, und die Durchhörbarkeit des Klangbildes könnte besser sein, doch hinterlässt die nun wieder zugängliche Einspielung unter der Ägide des 85-jährigen Komponisten einen geschlossenen Eindruck. Tippetts in noch höherem Alter komponiertes, in geheimnisvolle Klangfarben getauchtes Orchesterwerk „The Rose Lake“ schildert seine Eindrücke von einem außergewöhnlichen Naturschauspiel in Afrika. Zusammen mit dem lange vergriffenen Mini-Oratorium „The Vision Of St. Augustine“ liegt dieser von Colin Davis ursprünglich für die Marke Conifer dirigierte Schwanengesang jetzt in der neuen Mid-Price-Serie „music redefined“ vor.

Eine Mühelosigkeit der Erfindung bei gleichzeitiger Beherrschung des Handwerks ist nicht nur dem kleinen Elgar, sondern auch dem jungen Britten zu attestieren, der schon als 14-jähriger mit kaum glaublicher Metiersicherheit „Quatre Chansons Francaises“ schrieb und orchestrierte. Zwei Meisterwerke des 20- bis 24-Jährigen, die „Simple Symphony“ (die das Wunder von Prokofieffs „Symphonie classique“ wiederholt) und die „Variationen über ein Thema von Frank Bridge« bringt nun das Kiewer Kammerorchester in ergreifender Schlichtheit und klanglicher Perfektion zu Gehör; erst solch hochkarätige Interpretationen stellen die verborgenen kompositorischen Raffinessen angemessen heraus. Sinnvoll ergänzt wird das Programm durch den großartigen, von düsteren Tönen überschatteten Liederzyklus «Les Illuminations“ nach Arthur Rimbaud - der Zweite Weltkrieg hatte gerade begonnen. Wer sich mit allen fünf von Orchester begleiteten Zyklen, ja mit Brittens Liedschaffen insgesamt befassen möchte, hat jetzt eine günstige Gelegenheit: Auf zwei Naxos-CDs singt unter anderem Philip Langridge alle ursprünglich für Peter Pears komponierten Stücke, darunter die beliebte „Serenade“ für Tenor, Horn und Streicher aus dem Jahre 1943. Pears’ Fußspuren, doch nicht dessen Eigenheiten folgt Langridge auch bei den fünf zwischen 1947 und 1974 komponierten „Canticles“ (Kammerkantaten religiösen Inhalts) sowie auf zwei weiteren CDs mit alten originalen Klavierliedern Brittens. Die unten genannten Einspielungen, auf denen Brittens ehemaliger Assistent Steuart Bedford entweder als Dirigent oder als Liedbegleiter mitwirkt, entstanden vor zehn Jahren für das Label Gollins – als digitale Alternative zu Brittens und Pears‘ legendären Eigeninterpretationen für die Decca. Leider fehlen einige Gesangstexte, und auf ihre deutschen Übersetzungen muss man vollends verzichten.

Mátyás Kiss

Diskographie

  • Charles Villers Stanford: Requiem; Solisten, RTÉ Philharmonic Choir, RTÉ National; Symphony Orchestra of Ireland; Ltg.: Adrian Leaper, Naxos 8.555201-02
  • Frank Bridge: The Sea, Enter Spring, Summer, Two Poems for Orchestra; New Zealand Symphony Orchestra, Ltg: James Judd, Naxos 8.557167
  • ders.: Orchestral Works Vol. 4: A Prayer, Oration, Rebus, Lament, Allegro moderato; Alban Gerhardt, Violoncello; BBC National Orchestra of Wales, Ltg.: Richard Hickox, Chandos/Codaex CHAN 10188
  • Edward Elgar: Falstaff, Cellokonzert u.a.; Heinrich Schiff, Violoncello; Hallé Orchestra, Ltg.: Mark Elder, Sanctuary/Codaex CD HLL 7505
  • ders.: The Wand of Youth, Nursery Suite, Dream Children; New Zealand Symphony Orchestra, Ltg.: James Judd, Naxos 8.5571 66
  • Frederick Delius: A Village Romeo and Juliet, Orchesterstucke; div. Solisten, Royal Philharmonic Orchestra, Ltg.: Thomas Beecham, Naxos Historical 8.110982-83
  • John Foulds: Three Mantras, Lyra Celtica, Apotheosis, Mirage; Susan Bickley, Mezzosopran; Daniel Hope, Violine; City of Birmingham Symphony Orchestra, Ltg.: Sakari Oramo, Warner 2564 61525-2
    William Walton: Belshazzar‘s Feast.
  • Christopher Purves, Bariton, div. Chöre, English Northern Philharmonia, Ltg. Paul Daniel, Naxos 8.555869
  • ders.: Cellokonzert (+ Dvorák); Gregor Piatigorsky, Violoncello; Boston Symphony Orchestra, Ltg.: Charles Munch, RCA/BMG 82876663752
  • Lennox Berkeley: Sacred Choral Music. Jonathan Vaughn, Orgel; Choir of St John‘s College, Cambridge; Ltg.: Christopher Robinson, Naxos 8.557277
  • Michael Tippett: A Child Of Our Time – Oratorio in Three Parts; Solisten, City of Birmingham Chorus & Symphony Orchestra; Ltg.: Michael Tippett, Naxos 8.557570
  • ders.: The Rose Lake, The Vision of St. Augustine; John Shirley-Quirk, Bariton; London Symphony Orchestra, Ltg.: Colin Davis bzw. Michael Tippett, RCA/BMG 82876642842
  • Benjamin Britten: Simple Symphony, Frank Bridge Variations, Les Illuminations; Franziska Hirzel, Sopran; Kiewer Kammerorchester; Ltg.: Roman Kofman, MDG/Codaex 601 1275-2
  • ders.: Orchestral Song-Cycles 1 – Quatre Chansons Francaises, Our Hunting Fathers, Les Illuminations; Felicity Lott, Phyllis Bryn-Julson, Sopran; English Chamber Orchestra, Ltg.: Steuart Bedford. Naxos 8.557206
  • ders.: Orchestral Song-Cycles 2- Serenade for Tenor, Horn and Strings, Nocturne, Phaedra (Cantata); Philip Langridge, Tenor; Ann Murray, Mezzosopran; Frank Lloyd, Horn; Northern Sinfonia, English Chamber Orchestra, Ltg.: Steuart Bedford. Naxos 8.557199
  • ders.: Canticles 1- V, The Heart of the Matter; Philip Langridge, Tenor ; div. and. Sänger und Instrumentalisten; Steuart Bedford, Klavier. Naxos 8.557202
  • ders.: Seven Sonnets of Michelangelo, The Holy Sonnets of John Donne, Winter Words; Philip Langridge, Tenor; Steuart Bedford, Klavier. Naxos 8.557201
  • ders. (+ Berkeley): Auden Songs; Della Jones, Mezzosopran; Philip Langridge, Tenor; Steuart Bedford, Klavier, Naxos 8. 557204

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