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nmz-archiv
nmz 2005/06 | Seite 40
54. Jahrgang | Juni
Rezensionen
Originalklänge aus dem Osten
Das Moskauer Label „Caro Mitis“ mit neuen SACDs
Die „Originalklang“-Welle mit ihrem Anspruch, Alte
Musik historisch korrekter aufzuführen als bisher, begann vor
vielen Jahren mit Nikolaus Harnoncourt in Österreich, dem Collegium
Aureum in Deutschland und mit etlichen Ensembles in England und
den Niederlanden. Heute gibt’s solche Ensembles in ganz Europa
und auch in näher liegenden osteuropäischen Ländern
in großer Zahl und in unverändert spannender Konkurrenz.
Jetzt aber kommen Aufnahmen in historischer Spielpraxis auf alten
Instrumenten sogar aus Russland und sie begeistern.
Vor wenigen Jahren fanden sich unter Leitung des bekannten Oboisten
Alexei Utkin junge Absolventen des Moskauer Tschaikowsky-Konservatoriums
zum Kammerorchester „Hermitage“ zusammen, das für
das Moskauer Label „Caro Mitis“ (lateinisch so etwas
wie „Reife Frucht“– die Moskauer lieben offenbar
lateinische Namen) aufnimmt. Aus ihm formierten sich weitere Ensembles:
einmal eine historisch ausgerichtete Gruppierung mit dem wie ein
Motto klingenden lateinischen Namen „Pratum Integrum“
(etwa „Blühende Wiese“), die Werke des Barock,
der Frühklassik und der Klassik für die Serie „Eximium“
aufnimmt; daneben gibt es für Zeitgenössisches auf modernen
Instrumenten eine zweite Aufnahmeserie „Eminens“ (beide
lateinischen Wörter bedeutaen dasselbe, nämlich „Hervorragendes“,
auch das eine programmatische Bezeichnung).
Unter Utkins Leitung – er spielte schon vor zwanzig Jahren
mit den „Moskauer Virtuosen“ – und mit ihm als
Solisten erschienen nun die ersten – von bewährten Tonmeistern
aus Holland und Belgien als SACD hergestellten – Silberscheiben:
von J.S. Bach gleich drei Folgen von Oboenwerken, Originale und
Bearbeitungen; dann mit dem Titel „Oboenspitze“ eine
SACD mit Oboenkompositionen von W.A. Mozart; schließlich als
Weltersteinspielung eine Aufnahme mit Werken des hierzulande unbekannten
Mozart-Zeitgenossen Anton Ferdinand Tietz.
Die Bach-Serie enthält die BWV-Nummern 1030b, 1043, 1053,
1055, 1059, 1060, 1064, 1066, 1067, 1069 - dazu als „Bonus-Track“
das „Italienische Konzert“ BWV 971. Dem Kenner fällt
auf, dass Utkin in einer eigenen Bearbeitung den Flötenpart
in Bachs 2. Orchestersuite BWV 1067 auf seiner Oboe spielt, eine
ungewohnte, nicht nur klanglich betörende Alternative; das
Doppelkonzert für zwei Violinen BWV 1043 ist – nach der
bekannten Fassung des Doppelkonzerts BWV 1060, das in dieser Sammlung
auch enthalten ist – für Oboe und Violine bearbeitet,
eine in ihrer ungewohnten Klangkombination sehr attraktive Fassung.
Es sind nicht so sehr solche ungewohnten neuen Tonfarben, die faszinieren,
sondern es ist in allen Stücken – ob Kammermusik, Konzerte
oder Orchesterwerke – vor allem die mitreißende Mischung
aus einer erstaunlichen technischen Präzision mit einer fast
explosiv musikantischen Spielfreude, die einen in den Bann zieht
– sie erinnert an das „Concerto Köln“ in
seinen ersten Jahren, als es mit einer solchen fast schon extrem
riskanten Musizierweise die Zuhörer von den Sitzen riss.
Und diese Faszination gilt auch für die Mozart-SACD –
mit dem Quintett KV 516 (hier für Oboe und Streichquartett
bearbeitet), dem Flöten-Andante KV 315 (statt Flöte hier
natürlich Utkins Oboe) und dem Oboenkonzert KV 314 –
und ebenso für die wiederentdeckten Kompositionen von Anton
Ferdinand Tietz (1742-1810), der in Nürnberg und Wien wirkte,
bevor er 1771 nach St. Petersburg ging, wo er Kammermusiker am Hof
der Zarin Katharina II. wurde. Die Silberscheibe enthält eine
für ihn repräsentative Werkauswahl mit einer mit fröhlichen
Trompetensignalen beginnenden C-Dur-Sinfonie, einem Streichquintett
und einem Streichquartett – beide Werke im intimen d-Moll
lassen bei allen Haydn- und Mozart-Anklängen deutlich Eigenständiges
erkennen –, einem originellen, höchst melodienreichen
und anspruchsvoll virtuosen zweisätzigen C-Dur-Duo für
Geige und Cello und schließlich einem aparten Es-Dur-Violinkonzert:
alles Werke, die sich nicht nur durch überraschende harmonische
Akzente und dynamische Effekte, sondern vor allem mit deutlichen
Anklängen an sich abzeichnende romantische Ideale auszeichnen.
Auf mehr „Reife Früchte“ aus Moskau darf man gespannt
sein…
Diether Steppuhn
• Caro Mitis/Klassik-Center SACD CM 0012003, 0012004 und
0032003: J.S. Bach, Oboenwerke; Alexei Utkin (Oboe und Leitung),
Hermitage Kammerorchester;
• Caro Mitis/Klassik-Center CM 0032004: Wolfgang A. Mozart,
Oboenwerke; Alexei Utkin (Oboe und Leitung), Hermitage Kammerorchester
• Caro Mitis 0022004: A.F. Tietz: Instrumentalmusik; Orchester
Pratum Integrum (auf historischen Instrumenten), Alexei Utkin