Johannes Kalitzkes Oper „Inferno“ nach Peter Weiss
in Bremen uraufgeführt
Schon oft wurde in Bezug auf neues Musiktheater über die
Frage von vertonter Literatur auf der einen Seite, von abstrakten
Sujets auf der anderen diskutiert. Jetzt legte Johannes Kalitzke
in Bremen eine Oper über ein erst 2003 aus dem Nachlass von
Peter Weiss veröffentlichtes Manuskript mit dem Titel Inferno
(nach Dante) vor. Die Hölle, das ist die Gesellschaft von Upperclass
zwischen Smalltalk und Wellness, unterfüttert von Schlägern,
Folterern und Henkern. Peter Weiss (1916–1982) zählt
zu den großen literarischen Nachkriegskritikern. Als Sohn
eines jüdischen Vaters (der ohne Erfolg versucht hatte, sich
mit den Nazis zu arrangieren) geriet er mit seiner Familie ins schwedische
Exil. In Deutschland (West wie Ost) wurde er nie mehr richtig heimisch.
Als er zwischen 1964 und 1969 an einem Projekt über Dantes
Divina Commedia arbeitete, dachte er wohl beim Höllenteil „Inferno“
an die Mechanismen des Verdrängens, die vor allem die prosperierende
westdeutsche Gesellschaft so virtuos entwickelte. Der Himmelsteil
wurde übrigens 1965 zum szenischen Oratorium „Die Ermittlung“,
also zum Stück über die Auschwitz-Prozesse, entwickelt.
In der Spirale der Vergnügungsgesellschaft:
Kalitzkes „Inferno“ in Bremen. Foto: Jörg
Landsberg
Der Text ist ein Gebäude mit vielen Ebenen, die Worte von
Weiss hängen an den Wänden wie Plakate: politisches Theater
der 60er-Jahre. Dante kommt aus dem Exil in die Heimatstadt Florenz
zurück. Das vormals Vertraute war zur Fratze geworden, eine
Stadt, in der es keine Schmerzen gibt, wie die Bewohner versichern.
„Lasst alle Zweifel fahren“, steht über dem Eingangstor
– und das ist für den kritischen Geist Dantes letztlich
schlimmer als der Verlust jeglicher Hoffnung in „seiner“
Hölle. Dante, das ist aber auch Weiss im Deutschland nach dem
Krieg. Biographische Parallelen in zeitbezogenen Verbiegungen durchziehen
den Text (Dantes Beatrice zum Beispiel wird zu einem Mädchen,
das Weiss vergeblich aus dem KZ zu retten suchte). Und der Führer
Vergil ist zum angepassten und aalglatten Moderator verkommen, der
sich allen Zeitläuften anzupassen weiß. Es gibt kein
Entkommen, ist seine Überzeugung. Auch Dante wird angepasst,
wird zum Mittäter, aber letztlich bleiben ihm Zweifel. „Inferno“
von Weiss ist eine bittere Draufsicht auf die Kunst der Lüge
und der Blindheit, die die schlimmste Katastrophe der Menschheit
durch Besinnungslosigkeit und Selbstbetrug noch überhöht.
Wie vieles von Weiss drängt auch dieser Text zum Klang; Nono
hatte ja schon die Musik zur Ermittlung geschrieben. Massen treten
chorisch auf, das Individuum sucht seine Stimme, die verloren zu
gehen droht. Nicht nur das hat ein Pendant zur Musik, auch die Überschneidung
von Zeitebenen, das Überkreuzen von Nähe und Distanz,
vielleicht sogar die apotheosenartige Ansprache und Mahnung. Johannes
Kalitzke, Jahrgang 1959, jedenfalls verstand es als Wink des Schicksals,
als der so verdienstvolle Bremer Intendant Klaus Pierwoß die
Anfrage an ihn richtete. Seine beiden bisherigen Musiktheaterwerke
über den Jazzmusiker Jack Tiergarten und über Molière
bewegten sich in vergleichbarem Umfeld: das an die Gesellschaft
ausgelieferte Individuum. Jetzt setzte Kalitzke diesen Weg fort
und entwickelte gleichzeitig neue musikdramatische Akzente.
Als „Schwarze Show“ charakterisiert Kalitzke sein
Stück „Inferno“. Wirklich gelang es ihm, einen
musikalischen Ton zu entwickeln, der beinhart klar daherkommt, der
zwischen Tänzen, Marsch und Choral, als seien sie Showeinlagen,
changiert, der aber zugleich das Falsche des Tons hellhörig
einfängt und integriert. Denn verdreht ist hier alles: Das
Harmlose ist das Grauen, das Unverbindliche der Todesstoß,
das grelle Äußere erzählt vom wüsten und leeren
Innen. So ist auch die Musik. Es ist keine Oper im gewöhnlichen
Sinne, häufig wird gesprochen, oft mit verzerrten Stimmen allerdings,
die hallig die Zeitebenen übereinander falten. Die Musik ist
eher surreale Klanglandschaft, wirkt wie Lampions, die einer nächtlichen
Szene bunt blendende Lichter aufsetzten. Kalitzke spricht von einem
Klang zwischen Dur und Moll, von Zitathintergründen bei Palestrina,
Satie und Brahms, von der Konfrontation von Theorbe und E-Gitarre
(plakativ an den Seiten der Bühne platziert). Das gehört
zur Materialseite, aber es ist ihm gelungen, Klang wie eine Fratze
oder Maske wirken zu lassen. Dazu sind die musikalischen Strukturen
einfacher als in früheren Werken, kenntlicher, konkreter, aber
die Brechung tritt umso deutlicher hervor. Im Grunde entwickelt
sich das Stück nicht („Fürs große Ganze spielt
es keine Rolle, wo du jetzt stehst“, sagt Vergil zu Dante).
Der Künstler (Vergil/Dante/Weiss/Kalitzke) wird von der blindvergnügten
Masse eingesponnen und korrumpiert, er gerät in ihre Spirale,
der Ton wird gegen Ende des Stücks immer milder, harmonischer
und abgeklärter und gerade darum immer bitterer und verzweifelter:
eine negative Apotheose, denn nichts ist grausamer, als die Erkenntnis,
sich nicht wehren zu können. Als Einziges bleibt dem Künstler
ein Restverdacht. Der Text in der kantigen Sprache des Polittheaters
der 60er-Jahre wurde von Kalitzke ins Jetzt geholt und zugleich
in seiner Brisanz erhalten.
Dem hatten Regie und Bühnenbild (David Mouchtar-Samorei, Heinz
Hauser) wenig hinzuzufügen, und das taten sie anständig.
Leicht wäre es, dieses Sujet bizarr zu überzeichnen, doch
man setzte auf klare, eindeutige Konturen, auf das einfache Sprechen
der Bilder. Das tat wohl, wie auch die ganze Ensembleleitung und
die behutsam plastische Führung der Musik durch den jungen
Dirigenten Stefan Klingele. Neues Musiktheater hat mit dieser Bremer
Aufführung einen entscheidenden Schritt ins Neuland getan.