Neuer Musikhimmel mit deutsch-französischen Klangwolken
France-Allemagne aujourd’hui: Konzerte in der Pariser Cité
de la musique mit Uraufführungen von Kyburz und Manoury
Auffällig häufen sich deutsch-französische Begegnungen
in der Neuen und neuesten Musik. Das war nicht immer so. Darmstädter
und Donaueschinger Ästhetik-Prägungen erschienen die klang-koloristischen
Vorlieben etwa der so genannten Spektralisten eher verdächtig.
Die Verleihung des Siemens Musikpreises an Henri Dutilleux mag als
äußeres Zeichen dafür gelten, dass sich frühere
Reserviertheiten aufgelöst haben. Eine dreiteilige Konzertreihe
in der Pariser Cité de la musique unter dem Titel France-Allemagne
aujourd’hui unterstrich diesen Prozess einer sich gegenseitig
befruchtenden Annäherung.
Philippe Manoury (Jahrgang 1952), Matthias Pintscher (1971), Hans-
peter Kyburz (1960), Gérard Pesson (1958), Philippe Hurel
(1955), Jörg Birkenkötter (1963), Tristan Murail (1947),
Oliver Schneller (1966), Johannes Schöllhorn (1962), Brice
Pauset (1965), Helmut Oehring (1961), Gérard Grisey (1946–1998)
und, gleichsam als eine Art Urvater, Henri Dutilleux (1916) –
die Namen der Komponisten, deren Werke in den drei Konzerten erklangen,
beschreiben allein schon die Farbigkeit, den Kontrastreichtum, die
Eigenwilligkeiten heutiger kompositorischer Handschriften. Zwei
Uraufführungen erklangen gleich im ersten Konzert: von Philippe
Manoury das Ensemble-Stück „Identités remarquables“
und von Hanspeter Kyburz die nunmehr komplettierte „Projektion“
für Ensemble und Orchester. Kyburz, eigentlich ein geborener
Schweizer, der aber so eng speziell mit dem deutschen Musikleben
verbunden ist (ähnlich wie der Schweizer Beat Furrer mit dem
Österreichischen), dass man ihn ebenfalls für die hiesige
Neue-Musik-Szene vereinnahmen möchte, knüpft mit seiner
„Projektion“ an einen Text des Malers Paul Klee (aus
dem Jahr 1922) an.
Die Kombination eines großen Orchesters (das Orchestre National
Lille) mit einem Ensemble (das Ensemble Intercontemporain, beide
Klangkörper souverän geleitet von Martyn Brabbins), ergibt
ein rasches, rhythmisch markantes Wechselspiel von horizontalen
und vertikalen Bewegungen, von Klangfarben und motivischen, melodisch
oder rhythmisch geprägten Strukturen, aus dem sich als Fazit
der Eindruck einer großen Energieabstrahlung einstellt. Der
im Konzert anwesende Henri Dutilleux, dessen Cello-Konzert „Tout
un monde lointain“ von Natalia Gutman grandios gespielt wurde,
wird sich über Kyburz’ „Doppelorchester“
sicher gefreut haben, komponierte er doch schon 1959 seine Sinfonie
„Le Double“, bei der ein großes und ein kleines
Orchester gleichsam einen plastischen Klang-Körper modellieren.
Überhaupt scheint die orchestrale Verdoppelung die Komponisten
zunehmend zu interessieren: Beim letzten Stuttgarter Éclat-Festival
unternahmen gleich zwei Komponisten den Versuch, das Sinfonieorchester
mit einer Big Band zu verbünden: Erkki-Sven Tüür
mit einer „Sinfonie Nr. 5“ für Big Band, E-Gitarre
und Orchester und Bernd Konrad mit „Stepping Stone –
I have a Dream“ für großes Orchester und Big Band,
beides gelungene Ansätze, versuchten über inszenierte
Klanggesten und orchestrale Klangflächen dem „fremden“
Jazz-Rock-Idiom einen geschmeidigen Einstieg zur Verschmelzung der
Klangkörper zu ermöglichen.
In seinen „Identités remarquables“ erweist
sich Philippe Manoury einmal mehr als Meister delikater, fein ausgehörter
und umgesetzter Anverwandlungen mehr oder weniger bekannter Vorbilder.
Im zweiten Satz, dem „Orden vom Hohen C“, wird auf das
gleichnamige Bild von Paul Klee angespielt, im sechsten „Laventer
Mist“ auf ein Bild Jackson Pollocks.
Im fünften, dem „Abgrund“, hört man eine
ausdrucksvolle Paraphrase über Alban Bergs „Wozzeck“,
im abschließenden „Perpetuum mobile“ eine witzige
Ironisierung mechanistischer Turbulenzen. Die nächste größere
Begegnung mit französischer Gegenwartsmusik findet im Herbst
beim Bonner Beethovenfest statt: ein halbes Dutzend französischer
Komponisten erhielt Aufträge für ein Streichquartett.
Die neuen Stücke werden dann in Bonn uraufgeführt.