Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Friedrich Schiller
und Hans Christian Andersen bewegten die Welt. Das produktive Gedenken
an sie prägt im Jahr 2005 die Diskurse über Kultur in
Deutschland. Beim internationalen Kammermusikfest Lübeck, dessen
Programm die Epoche 1870 bis 1918 reflektiert, wurde die Aufmerksamkeit
nun, statt auf Personen, auf die Klangmasken von Revolutionen und
Kriege gelenkt.
Elend, Murren und Proteste des hungernden Volkes in Russland drang
nicht zu den Ohren von Anton Arensky. Sein Klaviertrio Nr. 1 (1894)
ist eine unerschütterliche Seelenlandschaft, deren milde Spätromantik
das sympathische Ars Trio di Roma mit sensitiven Gesten ausbreitete.
Jäh bekamen diese friedlichen Szenen der Ahnungslosigkeit durch
die schroffen Klänge der „Symphonie Nr. 11“ (2.
Satz) von Dmitri Schostakowitsch einen Realitätssinn. Wie das
Murren sich beim Petersburger Blutsonntag im „Jahr 1905“
durch brutale Gewalt und Schüsse in seelische und körperliche
Verwundungen verwandelte, hat das Klavierduo Trenkner / Speidel
aus dem simplen Anfangsmotiv zu den stechenden und peinigenden Passagen
symphonischer Expression als intensiv nachempfundenes Ereignis gestaltet.
Das war keine Programmmusik, sondern, gerade in der von Schostakowitsch
selbst arrangierten Version für Klavier zu vier Händen,
eine aufwühlende Anteilnahme am Schmerz der unschuldigen Opfer.
Der Kriegsthematik widmete sich auch Anna Haentjens, allerdings
auf Deutschland bezogen. Für ihr Recital hatte sie zunächst
affirmative Lieder wie „Zum Geburtstage Kaiser Wilhelm II.“
(1891 / mit der Melodie des damals noch nicht offiziellen Deutschlandliedes)
oder „Der Soldate“ (1914, aus dem Volksstück „Immer
feste druff“) ausgewählt. Mit ihrem Klavierpartner Manfred
Schmitz, der seit Jahrzehnten regelmäßig mit der schon
legendären Brecht-Interpretin Gisela May beim Berliner Ensemble
auftritt, vollzog Anna Haentjens einen Salto mortale der Kunst:
Während sie das hurrapatriotische Repertoire mit ironischer
Distanz sang, konnte sich ihre modulationsfähige Stimme trotzdem
glaubwürdig auf Anti-Kriegslieder des Zyklus „Schwejk
im Zweiten Weltkrieg“ von Bertold Brecht und Hanns Eisler
einstellen. Ihre minimalistisch konzentrierte Bühnenpräsenz
ließ bei diesem extremen Kontrast keine Depressionen zu, sondern
forderte zur Überraschung des Publikums produktives Nachdenken.
Nun verdunkelten die Klangmasken des Krieges jedoch nicht die
angenehmen Erfahrungen des fin de siècle. Zu wenig beachtete
Jugendwerke wie der „Klavierquartettsatz a-moll“ (1876)
von Gustav Mahler oder Ernst von Dohnányis „Klavierquintett
c-Moll“ (1894) zeigten in den subtilen Interpretationen des
Ensembles Viardot eine fast unbekümmerte Aufbruchstimmung.
Die Violinistin Christine Edinger und der Pianist Christian Ruvolo
kündigten mit den impressionistischen Trancezuständen
der „Mythen“ (1915) von Karol Szymanowsky bereits ein
neues Zeitalter an. Die historischen Zusammenhänge dieses exponierten
Programmfestivals in Lübeck erläuterte Moderator Hermann
Boie wie immer mit nonchalantem Humor.