Das 8. A·Devantgarde-Festival in München gab sich
sportlich
Neun Konzerte verteilten sich beim Münchner Festival A•Devantgarde
über zwei Wochen. Inzwischen hat dieses gegen den ernsten Strich
gebürstete Festival einen veritablen Standort gefunden. Mit
dem übermütigen Ton jungen Aufbruchsgeistes kritisierten
einst (das Festival startete 1991) die Initiatoren, die beim Münchner
Komponisten Wilhelm Killmayer aber auch beim damaligen Biennale-Leiter
Hans Werner Henze nachhaltige Unterstützung fanden, die bequem
gewordenen Konzertveranstalter ebenso wie eine nicht hinterfragte
Avantgarde-Doktrin. Stattdessen setzte man auf frische Ansätze,
die freilich bisweilen den Makel bloßer, postmodernistisch
angehauchter Spaß-Ästhetik mit sich brachten. Und Spaß
hat keinen langen Atem, droht allzu schnell zu verpuffen. Man pflegt
internationale Kontakte, bringt Entlegenes und die leider oft etwas
dünnatmige Münchner Komponistenszene (aus Hochschule und
Konservatorium) kommt zur Sprache. Ein paar Eindrücke aus einigen
Konzerten.
Es begann mit einer Klaviernacht. Das machte schon was her: sechs
große Flügel, zusammengestellt wie ein Insektenmonster.
In der Musikhochschule wurde auf ihnen im Eröffnungskonzert
sechs Stunden Musik gemacht. Es war ein Streifzug durchs zwanzigste
Jahrhundert mit letztendlichem Auslauf in die repetitiven Welten
eines Steve Reich oder Terry Riley. Am Rande eingeflochten war auch
ein monumentales Klavierwerk „narratiritazium“, 15 pausenlos
aneinander geschlossene Stücke mit insgesamt eineinhalb Stunden
Länge, die sich fünf Pianisten untereinander aufteilten.
1981 bis 83 ist dieses wuchernde, immer wieder mit interessanten
Aspekten und dichten Strukturen aufwartende Konvolut entstanden,
keiner hat es bisher ganz gespielt. Nun wagte man es. Hochachtung.
Andere Uraufführungen gab es im Block „Hausgemachtes“.
Da durften junge und nicht mehr ganz junge Komponisten ran, die
im Umfeld der Münchner Ausbildungsstätten beheimatet sind
oder waren (Ferran und Oriol Cruixent, Alexander Sternemann, Kay
Westermann, Benedikt Schiefer, Wolfgang Gangkofner und, etwas abseits
platziert, Markus Schmitt). Während in Gaststätten das
Hausgemachte meist Qualitätsindiz ist (zumindest darf man sich
auf eine individuelle Geschmacksnote freuen), musste man hier feststellen,
dass viele Eigengewächse wie von der Stange kamen. Mit einem
Kick an Lustigkeit oder an spielerischem Vergnügen wurden Stücke
angefertigt, die ein paar Spieltechniken in Aneinanderreihung demonstrieren.
Die Resultate ließen wenig Hoffnung auf die Zukunft zu, zumindest
was schöpferische Hellhörigkeit oder was Neuartigkeit
der Ideen betrifft. Es war ein Strauß musikalischer Nettigkeiten,
mitunter an der Grenze zum Belanglosen. Und noch eine ganz andersartige
Uraufführung gab es, nämlich eine von John Cage.
Der künstlerische Festivalleiter Moritz Eggert verwies darauf,
dass das Stück „The Beatles 1963–1970“ noch
nie von sechs Pianisten zusammen gespielt worden war – bei
der ersten Aufführung behalf sich der Pianist mit der nicht
ganz Cage gemäßen Ausweglösung von Playbacks. Den
Ausklang bildete dann Terry Rileys Kultstück „In C“,
natürlich in einer Version für 6 Klaviere (plus einer
den Puls schlagenden Marimba). Das war in seiner Spannungskurve
sehr deutsch gedacht, wurde aber gleichwohl zu einer der stimmigsten
Aufführungen dieses Happenings in den letzten Jahren. Ein Abend
„Sportopern“ wusste zu locken, denn man will schon wissen,
wie es zur untrennbaren Einheit von Sex, Luxus und Fitness gekommen
ist, mit der jeder bessere oder schlechtere Aerobic-Club hausieren
geht. Der Sport ist schuld, seine Adhäsionskraft, seine Faszination,
seine Massenerregung. Denn dort beim Sport regiert er noch der Profit
– oder soll man sagen, der Sport hat es geschafft, was der
Kunst bislang versagt blieb. Im alten Griechenland hat man noch
einen siegreichen Faustkämpfer mit einer Pindar-Ode abgefertigt.
Da würde Klitschko ganz schön dumm gucken, wenn ein Text
von der Jelinek alles wäre.
Fünf Sportopern also drängten sich in der mit welkendem
Naturrasen sportiv unterfütterten Münchner Reaktorhalle
auf knapp eineinhalb Stunden. Opern waren es nicht, sondern szenische
Leibes-, Dress- und Geistesübungen, die sich gar nicht unbedingt
nur ironisch sportliche Betätigungen vornahmen. Da ging es
um olympischen Geist, um Aerobic, um asiatische Kampfsportarten
(Jasna Velickovic, Helga Pogatschar, Markus Muench) und bei den
letzten beiden musste man den Sport schon ein wenig suchen. Mark
Applebaum ließ Außerirdische auf der Erde Gegenstände
finden und (auch sportlich) deuten, Godfried-Willem Raes und Moniek
Darge hingegen setzten, völlig nackt auftretend, ein computergesteuertes
Instrumentarium in Gang: auch irgendwie ein Sport.
Am meisten konkret wurde Helga Pogatschar in „Manöverkritik“,
der die Spreizschritte zwischen Eitelkeit und militärischem
Drill, zwischen Schweiß und vermeintlicher Schönheit
auch musikalisch bestechend gelangen. Das Timing stimmte und mündete
fast zwangsläufig im Radetzky-Marsch. Ähnliche musikalische
Sogkraft ließ sich auch beim Tai-Chi-Studium durch Markus
Muench festmachen. Das weitere verharrte im skurrilen Plot, wenn
auch das nackt in Gang gesetzte Robot-Ensemble durchaus faszinierende
Hallklänge produzierte. Ein etwas häufi-ger und konkreter
gelöckter Stachel (auch musikalisch) für oder wider den
Sport wäre zu erwarten gewesen.
Ein Gastensemble kam aus Kanada: das Quatuor Bozzini. Es hatte
einen deutsch-kanadischen Mehrfach-Mix mitgebracht: „richtige“
Kanadier, eingewanderte, Austauschgäste und Bayern. Und das
ebenfalls deutsch-kanadisch gemischte Quatuor Bozzini präsentierte
sich als exzellentes Streichquartett, das vielleicht noch etwas
an der inneren Homogenität arbeiten muss.
Kanada, das ist immer noch ein relativ weißer Fleck auf
der musikalischen Landkarte (die besten Komponisten zog es nach
Europa). In einem ist uns dieses Land voraus: Der Musikunterricht
an den Grundschulen ist abgeschafft. Vielleicht bleibt der Fleck
also auch weiterhin weiß. Denn auch die Stücke von Scott
E. Godin („Solitude“), Ana Sokolovic („Blanc Dominant“)
und Michael Oesterle („Daydream Mechanics“) wussten
kaum zu überzeugen. Hübsche Klangideen, am ehesten noch
bei Sokolovic in einer variationenartigen Abfolge auszumachen, wurden
mehr oder weniger katalogartig ausgebreitet, bei Godin und Oesterle
wurde nicht einmal der Katalog geschafft. Sie verblieben strickmusterhaft
beim ersten Gedanken, der einmal einsame Linie, das andere Mal so
etwas wie Verstellmuster beinhaltete. Wenn das Kanadas Bestes ist?
Doch dann zwei schöne Arbeiten. Der in München lebende
Bernhard Weidner (geb. 1965) schrieb mit den „Bruckner-Schemen“
ein feingliedriges Stück aus flirrenden Tremoli, die sogleich
an den Beginn der Siebten erinnerten. Anderes, für Bruckner
Charakteristisches, trat von Ferne hinzu.
Das Stück bewegte sich sensibel zwischen Nähe und Fremdheit.
Und der 1965 in Erding geborene Georg Haider hat bei einem Arbeitsaufenthalt
in Montréal 2003 sein „Scherzo funèbre“
geschrieben, das mit schier unersättlicher Besessenheit eine
dynamische Rhythmik durchs Quartett trieb. Die Motive wirkten wie
wider den Strich gebürstet, gerieten in Unordnungszonen und
wurden immer wieder vom rastlosen Drive eingefangen. Ein Kampf des
Lebens mit dem Tod, konzentriert und nachdrücklich geschrieben
und gespielt.