[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2005/07 | Seite 29
54. Jahrgang | Jul./Aug.
Deutscher
Tonkünstler Verband
Das Hören in sein Recht setzen
Zum Tod des Komponisten Gerald Humel
Die Musik, die Neue zumal, mit der in diesem Fall auch die des
20. Jahrhunderts gemeint ist, werde als abstrakte Kunst wegen der
Dominanz des Visuellen in unserer Kultur weniger akzeptiert als
die Tonkunst vergangener Jahrhunderte. So hat Gerald Humel in Gesprächen
wiederholt die aktuell eher marginale Rolle von Kunstmusik zu erklären
versucht. Eine persönliche Antwort auf diese Problematik hat
der am Freitag, dem 13. Mai, unerwartet verstorbene Komponist aus
Berlin mit seiner Musik gegeben – mit einer Musik, durch deren
subtile Ausformung Gerald Humel das Hören neu herausfordern
und in sein Recht setzen wollte.
Vielleicht ist die Klangwelt des am 7. November in Cleveland/Ohio
geborenen Komponisten insofern zu verstehen als die Reaktion auf
die Erfahrungen, die er in der us-amerikanischen Gesellschaft machte,
in der er aufwuchs und die von allen Kulturen der Moderne wohl am
stärksten von der Dominanz des Visuellen (und des Konkreten)
geprägt ist. Dabei ist sein Werk sowohl von Abgrenzung wie
auch von der Anknüpfung an diese Kultur geformt. Was Irene
Lehmann in einem Essay über das „amerikanische Erzählkino“
sagt, dass es nämlich die „Struktur des europäischen
Dramas“ adaptiert und sich so gegen die von postmoderner Beliebigkeit
propagierte „Zerstörung der Form“ gewendet habe,
das gilt sinngemäß auch für die Musik Gerald Humels.
Das Spannungsverhältnis Europa – USA wird auch in der
Biografie Humels deutlich, in der die Entscheidung, nach Berlin
zu gehen, wo er 1960 als Fulbright-Stipendiat Schüler von Boris
Blacher und Josef Rufer wurde, einen zentralen Punkt markiert. Zuvor
hatte der Komponist ab 1943 am Oberlin-Conservatory, am Royal College
of Music in London, an der Hofstra University und an der University
of Michigan unter anderem bei Ellie Siegelmeister, Ross Lee Finney
und Roberto Gerhard Komposition und Querflöte studiert. Von
letzterem zeugt unter anderem das virtuose Flötenkonzert von
1961. Berlin war ab 1960 Lebensmittelpunkt des Komponisten, 1980
wurde Gerald Humel Mitglied der (damals Westberliner) Akademie der
Künste.
Man könne seine Musik als eine narrative bezeichnen –
diese Aussage von Interpreten und Kritikern hat Gerald Humel des
öfteren als treffende Beschreibung seiner Tonwelt zitiert,
und dieser Idee von Musik ist er sein Leben lang treu geblieben.
Seine Kompositionen sind hochexpressiv und von Kontrasten bestimmt,
voll Reichtum der Farben und Klänge, fast melodische, lyrisch-sensible
Passagen wechseln mit solchen, in denen akkordische Brechungen und
Akzentuierungen des Verlaufs aufstören, immer wieder finden
sich überraschende Wendungen. Im Dienst dieser von Atonalität
ausgehenden, dramatischen Welt steht die bis ins letzte Detail strukturierte
Textur. In ihren kontrapunktischen Netzen und rhythmischen Irregularien,
in der Vielfalt ihrer Variationsreihen, der Konsequenz ihrer motivischen
Entwicklungen, in der Strenge der formalen Abläufe und der
Proportionen, finden sich subtile Anspielungen und Anknüpfungen
an die traditionelle Formenwelt. Die Unbefangenheit der Gesten,
in denen dies geschieht, erinnert an jenen Effekt, den Klaus Theweleit
anhand der Begegnung von Tschaikowskys „Nussknacker“-Suite
mit der Bilderwelt von Disneys „Fantasia“ beschreibt:
Die Musik verliere in ihr einen „mitkomponierten Ballast an
Geschichts-Schwere“.
Anknüpfungen an die Tradition bedeuteten für Gerald Humel
nicht, diese auf neoromantische Art zu reproduzieren, von postmoderner
Beliebigkeit grenzte er sich scharf ab: Zuviel „Sound“,
zuwenig Inhalt und Individualität. Dagegen setzte der Komponist
so diffizile wie virtuose Strukturen, die Herausforderung für
Interpreten wie für Hörer sind, Strukturen, die immer
neue Aufmerksamkeit für das Detail erwarten. Darin gleichen
sich die Oper „Heinrichs Fieber – Eine Kleist-Vision“
(1994, Libretto. Thomas Höft), der Zyklus „Universum“
für Klavier (1981-90), „Chiaroscuro“ für Violine
solo (1982) oder das Klaviertrio „Herbst 95“. „Ich
will keine statische Musik komponieren, sondern eine, die den Zuhörer
ständig in ihrem Bann hält und ihn auffordert, dem Fluss
der Ausarbeitung zu folgen“, schrieb der Komponist 1998 in
einem Text über die Perspektiven Neuer Musik. Als Mittel, Aufmerksamkeit
zu wecken, setzte Humel in seiner Kammermusik, die in den vergangenen
Jahren den Großteil seines Schaffens ausmachte, häufig
auch ungewöhnliche Besetzungen (etwa Trios für Flöte,
Harfe und Violoncello) ein.
Einen besonderen Stellenwert im Werk Gerald Humel hat die Ballettmusik,
Musik einer Gattung, der die Frage nach dem Verhältnis von
Bild und Klang eingeschrieben ist. Zu nennen sind vor allem „Die
Folterungen der Beatrice Cenci“ (1971) und „Lilith“
(1972), beide kürzlich auszugsweise wiederveröffentlicht.
Die Choreographien für „Die Folterungen der Beatrice
Cenci“ und „Lilith“ hatte Gerhard Bohner besorgt,
dem Gerald Humel mit „glaube zu erinnern...“ für
Violoncello solo (1985) ein bewegendes Epitaph geschrieben hat.
Zwei weitere Ballette entstanden später in Zusammenarbeit mit
Arila Siegert: „Othello und Desdemona“ (1988, ausgezeichnet
mit dem Carl-Maria von Weber-Preis) und „Circe und Odysseus“
(1991).
Mit „Lilith“, vor allem aber mit den „Folterungen
der Beatrice Cenci“ ist der Komponist einem größeren
Publikum bekannt geworden. Die beiden Ballettmusiken sind von einer
eigenwilligen Tonsprache, in der sich aus extremen Kontrasten zwischen
einzelnen clusterähnlichen Klangereignissen, die von intensiver
Farbigkeit geprägt sind, große, quasi melodisch funktionierende
Spannungsbögen ent-wickeln. Mit diesen Mitteln stellen sie
sich der Frage nach dem Verhältnis von Bild und Musik und erzwingen
eine Gleichberechtigung beider. Humel selbst hat den Begriff des
„symphonischen Balletts“ geprägt, um diesen Prozess
zu beschreiben.
Diese Musik, in der Einflüsse Varèses und der Zweiten
Wiener Schule aufscheinen, ist keine Musik einer heilen Welt. In
ihr finden Gewalt und Aggression genauso wie tiefe Verzweiflung
ihren Ausdruck. Und in dieser Zerrissenheit, indem sie sich einer
falschen Versöhnung widersetzt, beharrt Gerald Humels Musik
in einem Akt des „Trotzdem“ auf der aufklärerischen
Idee des Subjekts als „selbstbewusst handelnden und deshalb
auch selbstverantwortlichen Menschen“, auf dem Subjekt als
dem „trotz seiner objektiven Fragmentiertheit einzigen Ausgangspunkt
für jede Bemühung um Wahrheit“ (Irene Lehmann).
Diese zentrale Stellung des Subjekts spiegelt sich in der Musik,
indem diese auf der Priorität des (aktiven) Hörens vor
dem (konsumierenden) Sehen insistiert.
Auch deswegen beharrte Gerald Humel darauf, dass Musik „eine
Entdeckungsqualität“ haben müsse, wie er in einem
Gespräch über die Kriterien sagte, nach denen die Gruppe
Neue Musik die Programme zum Beispiel ihrer berühmt gewordenen
„Großen Berliner Nachtmusiken“ gestaltete. Um
Entdeckungen ging es auch in der nichtöffentlichen Arbeit der
Gruppe, zu der nicht nur die sechs Komponisten gehörten, die
sie 1966 gegründet hatten. „Jeder von uns“, sagte
Gerald Humel darüber 1996, „hat sehr, sehr viel durch
die Zusammenarbeit mit den Interpreten gelernt“. Die von gegenseitigem
Respekt getragene Zusammenarbeit mit Interpreten zu pflegen, hat
der Komponist auch später nie aufgehört.
Gerald Humel hat die Offenheit, Unbefangenheit und Neugier, die
seine Arbeit in der Gruppe Neue Musik bestimmten und die von seinem
amerikanischen Hintergrund mindestens so sehr geprägt sind
wie von der Atmosphäre der 60er-Jahre, nie aufgegeben. Aus
dieser Haltung setzte er sich für jene Neue Musik ein, deren
ästhetischen Maximen er nicht folgte – nicht um Diskussion
oder Streit zu vermeiden, sondern um sie zu ermöglichen. Offenheit
bestimmte auch seine Haltung zum Publikum: „Wir wollten aus
diesem Kunsttempel-Denken raus, die Angst vor neuer Kunst abbauen“,
benannte er im Rückblick ein zentrales Anliegen der Gruppe
Neue Musik. Dieses findet sich ab 1986 auch in der Tätigkeit
des Komponisten als Leiter des Festivals „Schreyahner Herbst“
im niedersächsischen Lüchow-Dannenberg, an dessen Gründung
er federführend beteiligt war. Im Jahr 2000 musste er die Leitung
abgeben, knapper werdende (um nicht zu sagen verknappte) Finanzmittel
des Landes hatten ihn zu diesem Schritt bewogen. Erst mit der Uraufführung
des Liederzyklus „Visionen“ nach Gedichten von Nicolas
Born im Vorjahr erklang wieder Musik Humels in Schreyahn. Seine
Aktivitäten in der dortigen Region, wo er seit 1986 ein Haus
hatte, setzte er in kleinerem Rahmen, etwa im halböffentlichen
„Musiksalon Dünsche“, fort. Immer ging es dabei
um die ganze Welt der Musik.