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nmz-archiv
nmz 2005/07 | Seite 7
54. Jahrgang | Jul./Aug.
Gegengift
Helden der Vergangenheit, Zukunft der Arbeit
Die musikalische Avantgarde steht fest mit beiden Beinen in der
Vergangenheit. Zumindest was die Themen und Texte betrifft. Die
meisten Libretti lesen sich, als seien sie aus der Werkstatt des
Guido Knopp: „History”, mit dem entsprechenden raunenden
Unterton – Aufklärung für ein Publikum, das ansonsten
seine Menschenkenntnis gerne aus „People”-Magazinen
bezieht.
Dereinst, wenn das windschnittige „G 8”-Gymnasium erst
auf „G 7”- oder „G 6”-Niveau geschrumpft
und garantiert frei von allem Bildungsballast ist, kann man sich
die verloren gegangene Vorgeschichte in Kammeropern-Abenden wieder
aneignen. Die Avantgardisten, die einst alles wegräumten, was
die eigene Vision störte, sind nämlich längst Archivare
geworden. Wenn sie „sprechen”, kommt nicht Unerhörtes
zu Ohren, sondern werden die gerade modischen Mythen recycelt. Und
die ewige Wiederkehr rauscht durch einen hindurch, aufgepeppt und
hochfrisiert, als handele es sich um den jüngsten Tag.
Allein ein bekennender Avantgardie und Doktor honoris causa der
Musen wie Franz Hummel hat sich – nur eine kleine unvollständige
Aufzählung! – beschädigten Heroen der Moderne wie
Joseph Beuys und Michail Gorbatschow gewidmet, sich in uraufführungsfreudigen
Stadttheatern heiligen Monstern wie Gesualdo genähert, der
beim Komponieren noch blutige Tatzen bekam und dessen kurzes Dasein
tragisch endete, als blicke einem bei solchem Tun das eigene Tiefen-Ich
entgegen, und landete schließlich, ganz konsequent, beim Tschingderassabum-Requiem
auf einen jungfräulichen König: Ludwig II. im Musicalformat
als letzter Vorposten der Avantgarde. Nicht nur die Kammeroper bietet
einen Ort, wo Wünsche noch helfen und jeder einen Schuss frei
hat.
Die Zukunft als Bestiarium all der gefallenen Helden der Vergangenheit,
die im Glanz der Dissonanzen plötzlich dem Vogel Phönix
ähneln, der sich aus der Asche erhob. (Da fällt mir ein,
Hummel widmete einst ein ambitioniertes Konzert dem Urvogel Archaeopteryx.)
Im Licht der Partitur – und ihrem Zwilling, der Skizze fürs
Tanztheater – wird gerettet, was nicht zu retten ist: Selbst
die Rote Armee Fraktion komt so radical chic und mit solchem existenziellen
Ernst und Pathos daher, dass Ernst Jünger die längst sprichwörtliche
Erdbeere im Hals stecken bleibt und auch mit einem Schluck Champagner
nicht hinuntergespült werden kann; und aus „Hannelore
Kohl” wird so eine Art Schnelldurchlauf der jüngsten
deutschen Geschichte, abendunterhaltungskompatibel.
Berühmte Namen helfen bei der zahlungskräftigen Kundschaft,
auch und gerade in Amerika. Deshalb ist auf der sicheren Seite,
wer Nixon nach China begleitet oder sich mit Einstein am Strand
suhlt. Und: Die heißen Themen der Vergangenheit sind kalt
geworden; man kann sich nicht mehr so leicht die Finger verbrennen.
Der Mut ist gratis, eine Pose, die einem steht.
Man erwartet ja von der Avantgarde nicht, dass sie hellseherisch
um alle Zukunftsecken blickt. Aber muss es unbedingt so penetrant
„retro” sein, man wäre ja schon mit ein bisschen
Gegenwart zufrieden. Aber solange es eine unvertonte Skizze von
H.C. Artmann gibt oder die unveröffentlichte Version eines
Celan-Gedichts, die noch nicht durch Kollegenhand gegangen ist,
besteht offenbar wenig Hoffnung. Oder?
Ein wenig frische Luft weht immerhin durch die Skulpturenparks
und Pavillons der Bildenden Kunst, der man ja auch lange vorgeworfen
hat, dass ihr nichts Neues mehr einfällt. Tino Sehgal etwa,
deutscher Beiträger zur Venediger Biennale und noch keine Dreißig,
macht sich Gedanken darüber, wie man Kulturprodukte am Patina-Ansetzen
hindern kann und er kann das, was ihm durch den Kopf geht, auch
noch so formulieren, dass man aufhorcht.
Ein ZEIT-Gespräch mit dem Philosophen und nimmermüden
Begriffs-Koch Peter Sloterdijk, das er flugs zum Teil seines offenen
Werks erklärt („Achtung, Fluxus!”), leistet etwas,
woran sich heutzutage kein Politiker herantraut und was Wissenschaft
und Medien gern mythisch verbrämen: das Nachdenken über
die „Zukunft der Arbeit”. Was das mit Kunst, gar mit
Musik zu tun hat? Sehr viel. Denn erstens werden alle Musen hässlich
und verschrumpeln, wenn man sie zur Lüge zwingt. Und es wird
viel gelogen, wenn es um „Arbeit” geht. Und zweitens
könnte es, jenseits des Mythen-Recyclens und Selbstbeweihräucherns,
künstlerisch aufregend werden, wenn erst klar ist (und auch
klar ausgesprochen wird!), dass es mit der Arbeit, so wie wir sie
kennen, unwiderruflich zu Ende geht, dass der Mensch in Zukunft
nicht mehr ressourcenverschleißender Titan der Technik und
Herr der Erde sein wird, sondern auf andere Art mit sich selbst
und all den anderen zurecht kommen muss.
Da lauert viel Wut, da werden im schwierigen Übergang Monstren
unterwegs sein, gegen die selbst ein Gesualdo wie ein längst
verschimmelter Softie wirkt. Aber es gibt, diesseits des Untergangs,
auch die Möglichkeit zu einem poetischen, träumerischen
Neuanfang. Tino Sehgal hat darüber gesprochen, auch darüber,
dass dann „Produktion” und „Deproduktion”
wie Ein- und Ausatmen sein werden.
Vermutlich wird er vorläufig nur wenig Gehör finden.
Im beginnenden Wahlkampf wird zwischen Mindestlohn und Lohndrückerei
über die „Zukunft der Arbeit” so gesprochen werden,
als gehe es darum, die Gespenster der Vergangenheit neu zu beleben.
Und die Avantgarde-Komponisten werden weiterhin versuchen, in den
Archiven Beute zu machen – auf dass die Konkurrenz vor Neid
erblasse; oder sollte es doch nur der Staub des Vergangenen sein,
der alle einträchtig bedeckt.