[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2005/07 | Seite 5
54. Jahrgang | Jul./Aug.
Magazin - Dutilleux
Unerschütterlichkeit auf einem Weg am Rande
Der Komponist Henri Dutilleux erhielt in diesem Jahr den Ernst
von Siemens Musikpreis
Igor Strawinsky hat einmal, im Jahr 1955, über den 1945 durch
einen tragischen Irrtum erschossenen Komponisten Anton Webern geschrieben:
„Wir müssen nicht nur diesen großen Komponisten
verehren, sondern auch einen wirklichen Helden. Zum völligen
Misserfolg in einer tauben Welt der Unwissenheit und Gleichgültigkeit
verurteilt, blieb er unerschütterlich dabei, seine Diamanten
zu schleifen, seine blitzenden Diamanten, von deren Minen er eine
so vollkommene Kenntnis hatte.“
„Es ist kein Scherz,
Musik zu schreiben“. Siemens-Preisträger Henri
Dutilleux. Foto: Charlotte Oswald
Einiges von dieser Aussage ließe sich auch auf den 1916 im
französischen Angers geborenen Komponisten Henri Dutilleux
übertragen, der am 3. Juni in München den mit 150.000
Euro dotierten Ernst von Siemens Musikpreis 2005 erhielt (Webern
freilich wurde eine ähnliche Auszeichnung nie zuteil). Denn
die Musikgeschichte ist auf merkwürdige Weise an ihm vorübergegangen
– oder sollte man besser sagen, Dutilleux ist an ihr vorübergegangen?
Seit der Première Symphonie des 35-Jährigen von 1951,
in der sich der ganz eigenwillige Ton von Dutilleux anzudeuten begann,
sind gerade einmal 20 Werke entstanden. Als eigentlicher Durchbruch
gilt die 1959 entstandene Deuxième Symphonie mit dem Beinamen
„Le Double“. Drängt sich hier ein Vergleich zu
Anton Bruckner auf, der auch erst mit 40 Jahren zu seinem bestürzend
einzigartigen Ton fand?
Olivier Messiaen, der große Vater der französischen
Moderne, hat einmal geäußert, Dutilleux habe zwar nur
wenige Stücke geschrieben, jedes davon aber sei ein Meisterwerk.
Besser ist die Rätselerscheinung Dutilleux nicht zu beschreiben.
Wirklich weist die Liste seiner Kompositionen immer wieder große
zeitliche Lücken auf, manchmal sind es mehrere Jahre. Immer
freilich wurde das Warten belohnt. Denn Unwesentliches mochte Dutilleux
nicht schreiben – für das Wesentliche aber brachte er
ein kompositorisches Rüstzeug mit, das metaphysisch in alle
Tiefen zu steigen in der Lage war.
„Es ist kein Scherz, Musik zu schreiben. Tiefe ist dazu nötig:
eine Art Mystik“, umriss er selbst einmal sein schöpferisches
Anliegen und setzte hiermit eine Spitze gegen die Trends von Easy-Living
oder Easy-Listening. Seine reifen Werke, also die Arbeiten der letzten
50 Jahre, kreisen um Phänomene von Raum und Zeit, um das Mysterium
ihrer gegenseitigen Durchdringung. Ansätze französischer
Philosophie und Literatur, wir denken unter anderem an Henri Bergson
oder an Marcel Proust, aber auch Momente eines traumnahen Surrealismus
sind immer wieder in seinen Werken auszumachen. Damit stand Dutilleux
abseits von den Debatten um eine serielle Musiksprache, die in den
50ern von den jüngeren Komponisten so vehement geführt
wurde. Er verfolgte sie, nahm daran kritisch Anteil, und erkannte
wohl bald Engen, die seiner Art in Musik zu denken nicht gemäß
waren.
Zugleich gelang es Dutilleux, die musikalischen Mittel, insbesondere
Phänomene klangfarblicher Symbolik, auf geheimnisvoll intensive
Art mit dem Inhalt seiner Musik zu verschmelzen. Hier aber muss
man vorsichtig sein: Inhalt als außermusikalische Komponente
oder Vorgabe lehnte Dutilleux stets ab. Doch im Inneren der Musik,
in den Kräfteparallelogrammen von Klang, Farbe und Linie glüht
es in sprechender Intensität. Die Werke bestechen durch eine
geradezu magische Erzählkraft, die ihre Wurzeln in einem nur
ihm eigenen Amalgam aus Harmonik und Klangfarbe hat. Gerne verweist
Dutilleux immer wieder darauf, dass er musikalisch sowohl deutsch
als auch französisch ausgebildet wurde, vielleicht rührt
das eigentümlich Schwebende und zugleich Erdnahe seiner Musik
von da her. Jeder Ton hat für ihn Gewicht, lebt in einer Welt
von Spiegeln und irisierendem Licht, jeder verweist in Urgründe
des Mythos und spielt mystisch mit den Täuschungsmanövern
der Erinnerung. Davon, von der kryptisch verborgenen Inhaltlichkeit,
lassen schon einige Titel seiner Werke ahnen. Ein Cellokonzert hat
den Titel „Tout un monde lointain“, ein Streichquartett
„Ainsi la Nuit“, ein Orchesterwerk ohne Violinen und
Bratschen „Timbres, Espace, Mouvement“, ein Violinkonzert
„L’Arbre des Songes“, ein Streicherstück
„Mystère de l’Instant“ und das großartige
Orchesterwerk (mit drei Kinderstimmen) von 1997 heißt „The
Shadows of Time“.
Die Schatten der Zeit, das sind Erinnerungen, Verblichenes, das
sind eingegrabene Bilder, die in ihrer Symbolkraft die Zeiten überdauern,
das ist aber auch das stoische Ticken des ewigen Uhrwerks, mit dem
das Stück anhebt und schließt. Im mittleren Satz „Mémoire
des ombres“ treten wie fremde Erscheinungen Kinderstimmen
hinzu. „Warum wir? Warum der Stern?“, fragen sie. Dutilleux
widmete diesen Satz „Anne Frank und all den unschuldigen Kindern
dieser Welt“. Schicksale wie diese drücken „unserer“
Zeit, die gar nicht unsere ist, in die wir hineingeworfen sind,
den Stempel auf.
Dutilleux war keine nahe liegende Wahl. Er ist eine abseits stehende
Größe. Aber er ist seinen Weg mit niemals schwankender
Selbstverständlichkeit gegangen und gehorchte nur seinem Ohr,
seinem inneren Sensorium. Die Frage, ob er damit hinter den avantgardistischen
Bemühungen seiner Zeit zurückblieb, stellte sich ihm nie.
Und er blieb nicht zurück, sondern ging einen anderen, vielleicht
parallel verlaufenden Weg. Freilich hat er nie das musikalische
Werk selbst in Frage gestellt, Zufallsverfahren, Happening, Konzeptkunst
blieben ihm fremd, für ihn waren dies kurzatmige Ansätze.
Aber im Hinblick auf die bedeutungsschwere, magische Gestaltung
des Klangs ging er an Grenzen und entdeckte reiches Neuland. Der
Ernst von Siemens Musikpreis will ja nicht nur Persönlichkeiten
des Musiklebens auszeichnen, ein Preis dieses Formats hat auch die
Pflicht, Zeichen zu setzen. Dass er mit Dutilleux nicht nur auf
eine Person verwies, sondern auch auf die Unerschütterlichkeit
seines zwar geachteten, doch einsam zu beschreitenden Werdegangs,
verleiht der Auszeichnung zusätzlichen Sinn.
Es bewahrheitete sich auch diesmal: Die Verleihung des Ernst von
Siemens Preises wird so, wie der Ausgezeichnete ist. Dutilleux ist
einer, der zurückgezogen abseits steht, der lieber schweigt
und alles mit skeptischem Blick verfolgt, der skrupulös genau
arbeitet, der sich seiner Sache sicher ist, obwohl sein öffentliches
Auftreten immer noch kräftige Spuren von Nervosität zeigt.
Dennoch fühlte er sich in seiner Dankesrede gedrängt zu
sagen, dass er die Reaktionen auf das strenge serielle Denken, also
den Postmodernismus, die neue Einfachheit, die Neotonalität
nicht sonderlich schätzt. Auch er hatte die auf Spezialistentum
abzielenden Verhärtungen eines Boulez oder Stockhausen in den
50er- oder 60er-Jahren nicht begrüßt, doch der Pendelschlag
zurück sei eine zwar verständliche, keineswegs aber die
richtige Antwort.
Dutilleux sei in der Musikgeschichte um 1950 am anderen Ufer aufgebrochen,
meinte der Laudator, der französische Musikwissenschaftler
Dominique Jameux. Während die jungen Wilden alles Traditionelle
abgelehnt hätten, sei der zehn Jahre ältere Dutilleux
in der Tradition groß geworden. Doch heute hätten sich
Dutilleux und sein Gegenüber Boulez beide in der Mitte des
Stromes getroffen. Das ist kein ganz schlechtes Bild und Jameux
setzte noch ein Zitat von André Gide oben auf: „Es
ist gut, dem Hang zu folgen, vorausgesetzt er führt nach oben.“
Und wie sehr er nach oben führen kann, veranschaulichte danach
nachdrücklich das Arditti Quartet, als es Dutilleux’
Streichquartett „Ainsi la nuit“ spielte. Drei Jahre
hat der Komponist an diesem siebzehnminütigen Stück geschrieben
und hat damals wegen dieser Arbeit einen Opernauftrag ablehnen müssen.
Welcher andere Komponist hat solchen konsequenten Mut? Das Quartett
freilich gab ihm alles zurück. Man hört die fein durchgehörte
Genauigkeit, das filigrane Schleifen am Gegenstand. Und sicher brauchte
es auch etliche Zeit, um dem ganzen Stück den Charakter eines
verblüffend selbstverständlichen Gefüges zu verleihen.
150.000 Euro erhält Dutilleux als Auszeichnung für sein
Lebenswerk. Dies aber, gerne wird das übersehen, ist nur ein
Zehntel der Summe, die der Ernst von Siemens Musikpreis ausschüttet.
Drei Förderpreise gingen an den wendigen, längst auf den
Festivals der Moderne heimisch gewordenen, hoch talentierten Holländer
Michel van der Aa sowie an die deutschen Komponisten Philipp Maintz
und Sebastian Claren, deren kurze Werksproben durchaus aufhorchen
ließen, auch wenn man bei den beiden Deutschen wohl noch nicht
recht sagen kann, wohin die schöpferische Reise gehen wird.
Auch abzüglich dieser Summen bleibt immer noch ein stattlicher
Rest, weit über eine Million Euro, an Finanzmitteln, die projektbezogen
eingesetzt werden. Es ist inzwischen vielleicht das verdienstvollste
Feld des Ernst von Siemens Musikpreises. Denn parallel zur rückblickenden
Auszeichnung eines Lebenswerks werden Grundlagen für das Weitermachen
geschaffen.