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nmz-archiv
nmz 2005/07 | Seite 13
54. Jahrgang | Jul./Aug.
Musikwirtschaft
Leben und kaufen
Der forward2business Kongress 2005 in Halle
„Der Berliner Goldhut, auch „Urtyp des Zauberhuts“
genannt, könnte als eines der ersten Wearables oder Accessoires
gewertet werden. Der Zeremonienhut war etwa 75 Zentimeter hoch,
mit Sonnen, Monden und Sternen verziert und mit einem Kinnriemen
versehen. Mit ihm besaß man die Macht. Das erfolgreichste
Wearable überhaupt benutzen wir schon längst. Es ist nichts
anderes als das mobile Telefon, tragbar und trendy.“
Ein kleiner Ausschnitt aus der Rede, die Jacqueline Otten von der
Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich zur Eröffnung
des Zukunftskongresses forward2business 2005 hielt, bringt den Reiz
der Veranstaltung auf den Punkt. Neue Sichtweisen auf den Business-Alltag
provozierten zum Nach- und Neudenken. Die Designerin traf auf Handyhersteller,
der Spieleerfinder auf Fernsehproduzenten, der öffentlich-rechtliche
Rundfunkredakteur auf Autoproduzenten, Musikvermarkter auf Internetradiomacher
und Musikjournalisten auf Modehersteller, die i-Pods in Jacken einbauen.
Geben der Musik eine Zukunftschance
(v.li.): Dieter Gorny, Michael Schiewack und Sebastian Purps.
Foto: forward2business
„Wie kann man leben, ohne Unbekanntes vor sich zu haben?“.
Diese Maxime von René Char (im Poème Pulverisé)
war den Anwesenden zu wenig. Science-Fiction-Autor und Zukunftsforscher
Karlheinz Steinmüller zufolge „muss die Zukunft nicht
ein riesiger, völlig weißer Fleck auf der Landkarte der
Menschheit bleiben, zumindest die Umrisse lassen sich ausmachen“.
Unter der Anleitung von ihm und weiteren Moderatoren versuchte die
anwesende Kompetenz aus Industrie und Handel in die Zukunft von
Schlüsselindustrien wie Entertainment-, Auto- und Musikindustrie
zu schauen. Die präsentierten und diskutierten Zukunftsvisionen
orientierten sich am technisch Machbaren und am ökonomisch
Verwertbaren. Was der Mensch braucht, wurde nicht gefragt, nur welche
Bedürfnisse geweckt und vom Marketing bedient werden können:
„What doesn’t make you come, won’t stay“.
Der Mensch reduziert auf seine Primärbedürnisse. Was heißt
das im Fall Musik? Sie wird wie Leitungswasser frei verfügbar
sein, lautete die These. Plattenfirmen werden keine große
Rolle mehr spielen. „Die Künstler werden zu eigenen mittelständischen
Entertainmentfirmen und Distributionspartnerschaften“, so
die Vision von Dieter Gorny, Executive Vice President MTV Networks
Europe.
„Gerade in einer Zeit, in der alles verfügbar ist, werden
Rundfunksender immer wichtiger, da sie quasi eine Beraterfunktion
einnehmen“, sagte Petra Husemann-Renner vom In-ternetradio
motor.de, eine Meinung der sich auch Michael Schiewack, der Programmchef
der MDR-Programme Jump und Sputnik anschloss.
Doch vom Beraten allein will man in Zukunft nicht leben. Übers
Radio, besonders übers Internetradio kann man Musik auch verkaufen.
Kein Zufall also, dass das neue Online-Radio laut.de exklusiv auf
dem forward-2business Kongress an den Start ging. So könnte
das Radio der Zukunft aussehen: Parallel zum Radiostream wird es
Artist-, Event- und Ticketinformation geben. Und selbstverständlich
einen Downloadshop beinhalten. Wie war das mit dem Wasser? Wo der
Wasserzähler in Zukunft angebracht ist, das heißt wie
die Rechtesituation in zehn Jahren aussehen könnte, darüber
gab es verschiedene Ansichten, aber einen großen Wunsch: Es
soll einer angebracht werden.
Noch weiß man eben noch nicht, wie sich das omnipotente
Wearable Mobiltelefon in den nächsten Jahren entwickeln wird.
Sicher ist: Es wird zur Schnittstelle zwischen Video- und Musikanlage,
zur Schnittstelle Computer und Internet. Telefonieren soll auch
noch möglich sein. Doch ob das Mobiltelefon der Zukunft der
„kostenfreien“ Welt des Internet oder eher der Gebührenwelt
des drahtlosen Telefons zuzurechnen ist, konnte in Halle noch nicht
schlüssig beantwortet werden, auch wenn die Anwesenden zum
größten Teil allein von ihrer Interessenlage her zu den
„Kassierern“ zählten. Die Handyhersteller müssen
sich fragen, ob sie am Gerät oder an den Gebühren verdienen
wollen, die Musiker müssten wiederum daran interessiert sein,
mit Verwertungsgesellschaften zu sinnvollen Abrechnungsmodalitäten
zu kommen.
Vor welchen komplizierten Herausforderungen das Urheberrecht steht,
zeigte auch die Verleihung des Sputnik Innovator Award an Moby.
Seine Stücke sind vom User, also vom Käufer und Hörer,
nachträglich noch bearbeitbar. Die Grenzen zwischen Urheber
und Nutzer verwischen sich. Moby-Produzent Rupert Evans beschrieb
die Revolution, die sich in der Musikproduktion abgespielt hat und
die noch lange nicht abgeschlossen ist. Aufnahmetechnologie sei
heute für jeden erschwinglich, und zwar in besserer Qualität
als sie den Beatles jemals in der Abbey Road zur Verfügung
gestanden hat.
Zurück zur Zukunft: Die Grenzen zwischen virtueller und realer
Welt werden fließender. So werden heute bereits fiktive Werte
aus Internetspielen real auf der Tauschbörse ebay gehandelt.
2015 sollen nicht mehr bloß Spiele verkauft, sondern Welten,
die der Spieler nach seinen eigenen Bedürfnissen gestaltet
und die möglicherweise auch einen eigenen „Marktwert“
besitzen wie heute das Reihenhaus. Anush Mahadjer von EIDOS skizzierte
in seinem Vortrag den „interaktiven Spielfilm“ genauso
wie den Soundtrack „auf Platz 1 der Charts“. Dahinter
steckt ganz unverhohlen, dass der User durch seine Spielgewohnheiten
katalogisierbar wird, dass in virtuellen Welten offen für reale
Produkte geworben werde und dass Games- und Musikindustrie stärker
zusammenwachsen.
Kann Neuromarketing endlich Antworten geben auf so existenzielle
Fragen, warum der Kunde die teure Cola kauft, obwohl die billigere
besser schmeckt, oder warum ein Musiktitel in den Charts ganz oben
landet, obwohl er sich von zehn anderen nicht unterscheidet? Mit
der Einladung von Hirnforschern aus dem Bonner Universitätsklinikum
für Epileptologie versuchte das ungewöhnlichste aller
Branchentreffen auch darauf erste Antworten zu geben. Weitere Visionen
von der schönen Warenwelt von morgen finden Sie schon heute
unter www.forward2business.com