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nmz-archiv
nmz 2005/07 | Seite 8
54. Jahrgang | Jul./Aug.
Portrait
Freiheit, ins Ungekannte zu stürzen
Komponist ohne Nebenberuf: Jens Joneleit
New York, Sommer 2003: ein Fremder aus Nieder-Roden trifft Ensemble
Modern. Das Gespräch wird zum Zündfunken für seine
explosive Phantasie. Er beginnt einen wild polyphonischen Zyklus
zu skizzieren, nennt ihn „Le tout, le rien” –
und gewinnt im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau
einen kollegialen Partner und Auftraggeber. Als Uraufführungstermin
wird der 1. Oktober 2005 vereinbart; Deutscher Musikrat und Hessischer
Rundfunk ermöglichen flankierend eine Studioaufnahme für
die „Edition Zeitgenössische Musik”. Für den
Fremden eine Chance, auf die er sich mit ausdauerndem Training vorbereitet
hat.
Eruptionen an den Konfliktstellen:
Jens Joneleit: Foto: Guido Werner
Jens Joneleit ist ein stiller konsequenter Arbeiter, der es liebt,
sich den Unberechenbarkeiten einer neuen Idee auszusetzen, ihr forderndes
Eigenleben zu spüren, um dann aus dem inwendigen Klangtoben
das zu fassen und herüberzuholen, was man – nach langem
Schmelz- und Läuterungsprozess – ein „Stück“
nennt. Der Ort, an dem er es ins Reine schreibt, ist schmucklos;
nichts lenkt ab. Zwischen Klavier, Schlagzeug und anderem Instrumentarium
stehen ein roter Holztisch und dahinter – für die Skizzen
– ein metallenes Pult mit Leselämpchen, wie es Orchestermusiker
benutzen. Seitwärts quellen, als Überraschung für
den Besucher, verschiedenfarbig gebundene Manuskripte aus diversen
Umzugskartons, Zeugnis ablegend von einem Werdegang, der zickzack
und (zumindest hierzulande) weitgehend unbeobachtet verlief. Erste
Versuche reichen in die 80er-Jahre zurück, improvisatorische
Anfänge nicht mitgerechnet. Die musikalischen Wurzeln von Jens
Joneleit kann man im Free Jazz, der ihn früh faszinierte, ebenso
suchen wie im unbefangenen Ernst, mit dem er das alteuropäische
Erbe in all seinen Gegensätzen und Widersprüchen zu studieren
begann. Um sich über sein eigenes Europäertum klarzuwerden,
bedurfte er der räumlichen Distanz. Nach Abitur und Zivildienst
erhielt er das Angebot, mit einem Stipendium in die USA zu gehen,
und griff zu.
Als eingefleischter Autodidakt fand er auf Orchester- und Opernproben,
in Archiven und Tonstudios gleichermaßen wie in Hörsälen
und Kollegs die Gesprächspartner, deren Rat ihm weiterhalf.
Zwei seiner Lehrer, Lewis Hamvas und Joel Naumann, vermittelten
ihm pädagogische Impulse der Exilanten Bartók und Wolpe;
im Labor von Robert Marek erlernte er die Alchimie der Streicher-Mixturen,
und Stephen Yarbrough förderte seinen ersten Durchbruch zur
sinfonischen Synthese, zur „Bekenntnismusik mit mehreren Stimmen
in einer Brust“: im Zusammenklang artikulierten sie wortlos
die Lebenswut und -kraft eines Menschen, der als Gast im fremden
Gemeinwesen über die utopische Einheit von Leben und Schaffen
nachdenkt, über Künstlertum und Politik und die Dialektik
der Freiheit im Land des real existierenden subventionslosen Pluralismus.
Dort blieb Jens Joneleit auch nach dem Examen wohnen. Er arbeitete
mit Gruppen von Studierenden und Jugendlichen, schrieb Traumprotokolle
kammermusikalischer Hochseilakte wie das „gedunkelte Splitterecho“
für Kontrabass oder das Celesta-Quartett „Glaswolken“,
und um dieselbe Zeit begann in Deutschland, wohin er meistens im
Herbst auf Besuch kam, eine Folge von Gesprächskonzerten mit
Liedern, die unter arabesken Titeln wie „Monddunstland“,
„Die Stadt in allen Winden“, „Die Pfauen“
seine Sicherheit im Umgang mit der menschlichen Stimme begründeten
und deren Klavierpart mit xylophonischen, gläsernen und metallischen
Farben zusehends ins Orchestrale auswucherte.
Die Kunst, wenigen Instrumenten die Klänge von vielen zu
entlocken, eignet auch der Werkfolge, die das „ensemble gelber
klang“ 2002 in seinem CD-Rezital mit Kammermusik von Jens
Joneleit vorstellte: schrittweise zurückgehend bis zum zerfächerten,
verhuschten Monolog eines Cellos, um dann hinauszutreten in die
weiträumige Elfstimmigkeit einer „migrazione infinita“
mit langsam überkreuzten Skalen in Erd- und Felstönen.
Pure Lust, den herben Mischklang weiterzuentwickeln, führte
später zur Idee, mit „Le tout, le rien“ in siebenundzwanzig
simultanen Partien einen klingenden Berg zu ersteigen, der an der
Grenze zwischen Ensemble- und Orchesterkomposition die Möglichkeiten
beider Gattungen vereint.
Inzwischen ist Jens Joneleit nach Deutschland zurückgekehrt
und bereitet weitere Auftragswerke vor: fürs Radiosinfonieorchester
Stuttgart, für die „Frankfurter Positionen“, fürs
„éclat-Festival“… Er weiß, dass er
mit seiner Arbeit alles auf eine Karte setzt, denn er hat keinen
Nebenberuf; er ist weder Kapellmeister noch Instrumentalist noch
Theoretiker. „Ich bin einfach nur Komponist“, sagt er
– und versucht spontan zu umschreiben, was er beim „componere“,
beim Zusammensetzen der für ihn so charakteristischen Kontrastblöcke,
beobachtet: „Sie beginnen zu leben. Sie bewegen sich, driften
aufeinander zu. Und an den Konfliktstellen gibt es Verwerfungen
und Eruptionen.“ Daraus entsteht neue Bewegung; sie gerät
ihm nicht motorisch, sondern impulsiv: lebhaft in stetiger Veränderung.
Seine Anfangstakte etablieren oft etwas schutzlos Fließendes,
einen Echo-Raum, in dem die Spuren alles Hervorbringens verwischt
werden. Scharfgeschnittene Figuren lösen sich auf in einer
unendlichen Atemlinie, die alle Stimmen erfasst, alle Farben –
auch die Schwärze von Generalpausen – durchströmt
und bisweilen altvertraute Akkorde ins Leise und Fremde zurückzieht:
in solchen Momenten muss man sich förmlich auf die Musik zubewegen,
ihr zuneigen, „nicht mehr bloß Zaungast sein“,
wie Joneleit gerne sagt. Dann führt er uns mit seinen Klängen
hinters Licht, aber nur hinter das äußere; führt
uns hinter den Schein des Bekannten in Zonen elementarer Unsicherheit.
In einer Randnotiz zur kompositorischen Arbeit heißt es: „Wanderschaft
= Hören. Das Aufsuchen der Wüste“, und das schließt
für den Schaffenden die Suche nach der eigenen Stimme ebenso
ein wie die Möglichkeit, sich inmitten der Stille dem Wort
eines anderen zu öffnen.
Ein poetisches Wort kann zur Leben spendenden Quelle werden. Es
kann die Angst, aber auch die Freiheit steigern, die der kreative
Sturz ins Ungekannte immer bedeutet. En miniature zeigt das „Nachtlied“
nach Georg Trakl – zu hören am 5. September beim Bachfest
Stuttgart vom Ensemble Singer Pur –, wie Jens Joneleit einen
a-capella-Satz aus der Klarheit sprachlicher Deklamation zu entwickeln
vermag. Wenn hier die spiegelglatte Homophonie sich zu kräuseln
beginnt und harmonische Tiefen aufreißt, werden frühere
Beobachtungen, die dem „instrumentalen Singen“ des Komponisten
galten, übertragbar auf den rein vokalen Gedankenstrom, der
nun in eine neue Werkreihe mündet: „Perspektivenwechsel
im Rhythmus von Adrenalinschüben… Flucht ins Innere:
Zwiesprache mit Erinnerung und Widerhall – Lichtreflexe, Träume
von Vertrautem. Und wieder Verlorenheit im darüber hinaus Geahnten,
Erahnbaren – gleich dem leeren Raum, in dem aber etwas schlummert…“