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nmz-archiv
nmz 2005/07 | Seite 45
54. Jahrgang | Jul./Aug.
Bücher
Die Schattenfrau unter Wölfen
Auch die Pianistin Hélène Grimaud hat eine Autobiografie
geschrieben
Hélène Grimaud: Wolfssonate, Blanvalet,
München 2005,
256 S., € 19,90, ISBN 3-7645-0196-0
Wird Zeit, dass wir alle, die wir uns noch nicht getraut haben,
unser Leben schriftlich auszubreiten, mal darüber nachdenken,
dies nachzuholen. Die wirklich Wichtigen dieser Welt haben es ja
vorgemacht. Ledergrins Bohlen und dieses hyperaktive Kind namens
Daniel K. sind gewichtige prominente Kronzeugen; aber auch in der
Klassik-Branche grassiert mittlerweile die Sitte, sich in Buchform
zu Gott, der Welt und ein bisschen auch zur Musik zu äußern.
Midori etwa, der geigende Jungspund, hat eine Autobiografie verfasst.
Oder Hélène Grimaud, Frankreichs pianistischer Stolz,
deren Vaterlandsliebe doch nicht tief genug sitzt, als dass es sie
daran gehindert hätte, nach Nordamerika auszuwandern.
Bereits vor zwei Jahren veröffentlichte Grimaud in Frankreich
ihre Lebensbeobachtungen unter dem Titel „Variations sauvages“.
Da sich die Franzosen bekanntlich leicht entflammen lassen, spendeten
sie ihrer Hélène nicht nur Beifall, sondern auch viel
Aufmerksamkeit, indem sie ihr dieses Buch über hunderttausendfach
abkauften. Und Bernard Pivot, Frankreichs Reich-Ranicki, trompetete
TV-weit seine Anerkennung über die Bildschirme für diese
„faszinierende Autobiografie, die viel mehr ein Roman ist
als die meisten Romane des Jahres“. Um diesen Erfolg zu wiederholen,
hat man sich für die deutsche Übersetzung einen gleichermaßen
einprägsamen wie Grimaud-nahen Titel ausgesucht und das knapp
250-seitige Werk „Wolfssonate“ getauft.
Eine Autobiografie im klassischen Sinne ist dieses Buch sicher
nicht. Grimaud lenkt ungefähr die Hälfte ihrer Ausführungen
auf das Thema Tiere. Unvermittelt schweift sie ins Jahr 1532, als
in ihrer Heimatstadt Aix-en-Provence ein Gutachten erschien, wonach
schädliche Tiere vor ein ordentliches Gericht gestellt werden
sollten. Gehenkte Ochsen, erschossene Esel, hingerichtete Sauen.
Das ist natürlich nicht in Ordnung, und Grimaud protestiert
gegen diese Massaker, als seien sie just heute geschehen. Tiere
sind ihre Leidenschaft, und dieses Buch dient ihr als Forum, diese
Passion breitzuwalzen beziehungsweise sie gegen imaginäre Kritiker
zu verteidigen. Selbst Hildegard von Bingen findet in ihren Überlegungen
Platz, die sich Anfang des 12. Jahrhunderts über die Natur
der Wölfe ausgelassen hat. Grimaud breitet all diese Zitate
und Betrachtungen großzügig um einen autobiografischen
Kern: Als sie eines Tages in Florida einer Wölfin begegnet,
kurvt ihr Leben in eine andere Bahn. Wölfe werden ihr privates
Glück und zugleich ihr öffentliches Vermarktungs-Zeichen.
1997 gründet sie nahe New York ein Wolf-Pflege-Zentrum.
Doch geht es in diesem Buch auch um Grimauds Verhältnis zur
Musik, um ihre ersten pianistischen Erfahrungen, ihre Vorlieben,
ihre Lehrer. Petite-Hélène war eine Revoluzzerin.
Sie führt vieles an, was ihr quersaß und wogegen sie
protestierte, innerlich wie äußerlich. Sie galt als „Un-Gehorsam“,
„Un-Bezähmbar“, „Un-Zufrieden“, „Un-Berechenbar“.
Um ein authentisches Bild vom Menschen Grimaud zu vermitteln, scheut
sie sich vor nichts. Ziemlich schneidig urteilt sie über ihre
Mutter. Auch Teile der französischen Presse werden nicht gerade
mit Anerkennung überhäuft. Daneben berichtet sie von ihrem
Unterricht bei Leon Fleischer und den Hilfestellungen, die ihr Gidon
Kremer und Martha Argerich angedeihen ließen.
Die Musik wurde für Grimaud zur Flucht, sie war „eine
unmittelbare Kommunikation mit der Offensichtlichkeit“. Bis
heute sei sie „ein Parfum“ geblieben. Grimaud liebt
eine poetische, bildreiche Sprache: „Auf seine Weise erweckt
jeder Interpret, wenn er inspiriert ist, durch sein Spiel die verlorenen
Paradiese wieder zum Leben, weil im Reich des Heiligen Geistes alle
Engel Musiker sind. […] Der Engel hallt wider im Wind der
Musik: Er reißt den Interpreten in seinem Atem mit sich, weit
weg.“ Von den Komponisten ist es vor allem Chopin, für
den sie sich begeistert. Sie liebt die „männliche, mitreißende
Klarheit“ seiner Musiksprache. Dann folgt wieder eine ihrer
halb philosophischen, halb sprachverliebten Aussagen: „Er
befreit Welten, deren Klang er besitzt.“ Chopins Musik besitze
„ozeanische Tiefen“, „Gipfel, hart wie Diamant,
Insel von Riesen“. An Rachmaninow schätzt sie, „dass
er stets mutig zu seinen Überzeugungen stand“, denn „er
hat sich gegen die Sprache seiner Zeit gestellt“. Er habe
dem Klavier „all seine Möglichkeiten geschenkt, eine
beklemmende Schönheit auszudrücken“. Grimaud legt
sich ungern fest, sie sieht immer das Ja-Aber, sie ist bis heute
eine Revoluzzerin geblieben; eine, die glaubt sich durchboxen zu
müssen, indem sie vieles anders sieht.
Dieses Buch ist voller Eigenwilligkeiten, sprachlich und inhaltlich.
Hélène Grimaud hat eine Autobiografie geschrieben,
die einerseits mundtot macht und andererseits zu Widersprüchen
anregt – genau wie Grimaud, die Pianistin. Dass sie von der
(literarischen) Figur des Doppelgängers so fasziniert ist,
kann nach der Lektüre dieses Buches nicht verwundern: Grimaud
wird sich selbst mitunter zur Schattenfrau.