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nmz-archiv
nmz 2005/07 | Seite 34
54. Jahrgang | Jul./Aug.
ver.die
Fachgruppe Musik
Eine Partitur umspannt den Erdball
Das längste Zeitzeichen: Bis ins Jahr 2639 erklingt in Halberstadt
John Cages Stück ORGAN2/ASLSP
Gleich am Bahnhof entsteht der Eindruck eines ganz besonderen
Verhältnisses der Stadt zur Dimension Zeit. Permanent auf elf
stehen die Zeiger der Uhr. Erst beim zweiten Blick ist sie als Bild
einer Uhr erkennbar. Das halbe Gebäude bedeckt eine Kulisse;
das Bild des Bahnhofs, der dahinter verfällt, saniert oder
vielleicht zweckentfremdet wird – nicht der erste Bau in Halberstadt.
Ein denkmalgeschütztes aber geschlossenes Hallenbad wird zu
Theateraufführungen geöffnet. Im Gebäude der alten
Dompropstei befindet sich eine Hochschule. Die Peterskapelle aus
dem 14. Jahrhundert beherbergt die Stadtbibliothek.
Und die wohl älteste Kirche der Stadt bekommt für das
aufsehenerregende John-Cage-Orgel-Projekt extra ihre Würde
zurück. Johann-Peter Hinz, Metallbildhauer und Stadtpräsident
nach 1989 und Jacob Ullmann, Komponist aus Berlin, schlugen vor,
das Konzert ORGAN2/ASLSP in St. Burchardi aufzuführen. Um 1050
von Burchard von Nahburg gebaut, gehörte die Kirche 600 Jahre
zum Zisterzienserkloster, wurde im 30-jährigen Krieg zerstört,
1711 wieder aufgebaut, 1810 „säkularisiert“; 190
Jahre lang war sie Scheune, Schnapsbrennerei, Schweinestall und
Garage für Pferdefuhrwerke; am Eingangstor künden davon
die Riefen von Naben, der geschürfte Sand ist verflogen. Rinnender
Sand, rinnende Zeit – für Halberstadt und die Welt ein
unermesslicher, unabsehbarer Stoff.
Er wurde um unsere Jahrtausendwende gefunden, als das Kirchendach
gedeckt, Fenster eingesetzt, der Raum so hergerichtet wurde, dass
mit dem Bau eines Blasebalg-Systems das Cage-Projekt beginnen konnte.
Der amerikanische Komponist John Cage (1912 bis 1992) schrieb das
Stück 1985 für Klavier und 1987, auf Anregung des Organisten
Gerd Zacher, für Orgel. Zehn Jahre später bei einem Orgelsymposium
in Trossingen besprachen Musikwissenschaftler, Orgelbauer, Organisten,
Philosophen und Theologen, wie die Tempovorschrift ASLSP („as
slow as possible“) umzusetzen sei. Die Idee entstand, das
Stück in Halberstadt aufzuführen, weil hier 1361 Nicolaus
Faber im Dom die weltweit erste Großorgel baute. Diese so
genannte Blockwerksorgel hatte erstmalig eine, noch heute übliche,
zwölftönige Klaviatur. Somit hat klassische und neuzeitliche
Musik ihren maßgeblichen Ursprung in Halberstadt.
Von 1361 bis 2000 vergingen 639 Jahre. Addiert man sie zu 2000,
kommt man auf das Jahr 2639. Bis dahin soll gespielt werden –
also durchaus nicht bis in alle Ewigkeit, sondern in einem für
die Menschheitsgeschichte relativ überschaubaren Zeitraum.
Und doch gab es bisher noch kein so langes Stück.
Die Aufführung in acht jeweils 71 Jahre dauernden Teilen,
von denen ein Teil wiederholt wird (639 : 9 = 71), begann am 5.
September 2001 zu Cages 89. Geburtstag – mit einer Pause,
in der die vorläufige Orgeltastatur, Motoren und Blasebälge
installiert und das Gebläse mitternachts – vor großem
Publikum – feierlich angeschaltet wurde. Da der Beginn, 5.
September 2000, nicht realisierbar war, wurde quasi der ersten Pause
eine zweite vorangestellt – zum Luftholen für den Balg.
Am 5. Februar 2003 setzte als zweiter Impuls der erste Ton ein:
ein eingestrichenes gis, dann ein eingestrichenes h, überdies
ein zweigestrichenes gis – zunächst für anderthalb
Jahre hörbar, sodann der dritte – e und e’ –
am 5. Juli 2004. Das ergab einen E-Dur-Dreiklang, der momentan zu
hören ist und seine Farbe beim Umhergehen im Raum ändert.
Die Töne gis’ und h’ folgen am 5. Juli 2005. Einige
wechseln nach Jahren, andere bleiben über Jahrzehnte liegen.
Jeweils festgelegte Klangwechsel finden immer am fünften Tag
der betreffenden Monate statt. Sie werden vom Organisten gespielt
und die Tasten mit Gewichten, angehängten Sandsäckchen(!),
fixiert. Erst nach siebzig Jahren soll sie erstmalig schweigen.
Helmut Gleim, Kirchenmusikdirektor in Halle erklärt: Nicht
nur Stücke für Orgeln, die Luft holen müssen, sondern
auch Klavierstücke zum Beispiel beginnen mit einer Pause, in
der der Pianist seine Hände auf die Tastatur legt. Cages Klavierstück
mit dem Titel 4’ 33“ besteht gewissermaßen nur
aus einer Pause: Der Pianist sitzt am Klavier, rührt keinen
Finger, nur „zufällige“ Klänge oder Geräusche
vom Publikum oder von außerhalb des Konzertraumes sind hörbar.
Die Originalpartitur, nach der Gerd Zacher ASLSP 1987 in Metz
in nur 29 Minuten uraufführte, misst vier Meter. Umgerechnet
auf 639 Jahre mäße die Partitur 47.135,5 Kilometer –
zufällig oder folgerichtig: erdumspannend, sogar mit Spielraum.
Wird so viel Kalkulation dem musikalischen Denken John Cages gerecht?
Cage, beeindruckt vom Zen-Buddhismus und Meister Eckhart, komponierte
dieses und andere Stücke nach dem Zufallsprinzip: mit Computern,
auch loste er Tonhöhen aus, ließ chinesische Orakel sprechen,
legte transparentes Notenpapier auf Sternenkarten oder gab gar keine
Noten vor; er wollte „ins Unbekannte vordringen“, wie
er sagte, sich gar nichts ausdenken, war ein Dekonstrukteur der
Klangkunst.
Merkwürdigerweise verbinden sich solche entgegengesetzten
Vorgaben im Konzept ORGAN2. Denn fest steht nichts. Höchstens
der Ort. Die Stadt überschrieb der John-Cage-Orgel-Stiftung
St. Burchardi mit Grundstück und „Herrenhaus“,
unter der Bedingung, dass die Stadt keine Kosten trüge. Von
vornherein ist die Finanzierung auf die Hoffnung gegründet,
dass sie für die kommenden 639 Jahre gelingt. Sponsoren können
für 1.000 Euro – getreu dem Pauluswort „Kaufet
die Zeit aus“ – ein Klangjahr erwerben. Ihnen zu Ehren
werden in der Kirche Tafeln angebracht mit dem Geburtsdatum und
einem Text. Das zweite Jahr ist vergeben und das letzte. 2007 von
Familie Schädler, die „für eine positive Zukunft
für alle Lebewesen“ betet. 2222 von Wibke Bruhns und
ihren Töchtern. 2454 von Christiane Fischer mit Sätzen
von Robert Schneider: „Zeit strömt, ehe sie Zeit geworden
ist. Das Denken ist längst Erdachtes. Die Gegenwart ist endlos
und die Vergangenheit weniger als ein Augenblick.“ 40 Jahre
sind verkauft, fast 400 noch zu haben!
Extra zur Aufführung wird die Orgel entworfen und soll –
sehr langsam, während des Spiels – gebaut werden, zunächst
wollte der Marburger Orgelbauer Woehl die Pfeifen nicht im Orgelgehäuse
unterbringen, sondern im Kirchenraum verteilen, wie Bäume im
Wald. Und weil Cage ein großer Pilzkenner war, sollte das
Instrument Pilzform erhalten. Der Kevelaerer Orgelbauer R.F. Seifert
& Sohn setzt mit Unterstützung der Halberstädter Orgelbaufirma
Hüfken das Werk fort.
Auf der Projekt-Homepage wird die noch verbleibende Zeit für
ORGAN2/ASLSP angegeben. Am Sonntag, dem 10. April 2005, 11.43 Uhr
waren es noch 20.020.224.174 Sekunden. Dank digitaler Anzeige verrinnt
die Zeit besonders sinnfällig. Rasend rechts – nach links
immer langsamer, im Milliardenbereich tut sich jahrzehntelang nichts.
Was bedeutet der Welt und Nachwelt ein Konzert, von dem niemand
einen ganzen Teil wahrzunehmen vermag, geschweige denn das ganze
Werk? Nur Gott könnte es, für den tausend Jahre wie ein
Tag sind und wie eine Nachtwache (Psalm 90, 4). Insofern hat das
Jahrhundertwerk keine Botschaft oder Aussage – jedenfalls
keine musikalische. Es stellt sich als Musikstück selbst in
Frage. Das Projekt wächst über sich selbst hinaus und
wird dadurch gleichzeitig empfindlich. An welchen bestehenden ähnlich
langen zukunftsweisenden Programmen kann es sich orientieren? Vielleicht
ist der „Ewige Roggenbau“ in Halle, der „landwirtschaftliche
Dauerfeldversuch im Jahrhundertschritt“, ein vergleichbares
Vorhaben. Seit über 138 Jahren werden Auswirkungen von Düngung
oder Witterung auf Erträge erforscht und damit auch aktuelle
Fragen zur Emissionsminderung von Treibhausgasen und zur Nachhaltigkeit
beantwortet.
Sollten jemals Endlager für Atommüll ausgewiesen werden,
benötigt man eine deutliche vor dem Gift warnende Sprache,
die über Epochen und Generationen hinweg gilt – über
einen Zeitraum, der ORGAN2 weit hinter sich lässt – Projekte,
die zunächst nichts miteinander gemein haben. Doch hier liegt
der Sinn eines Ereignisses, das so weit über den Tag hinausweist:
Ein verbindlicher Gedanke, Pläne, Handwerkszeug zur akkuraten
Umsetzung müssen über Generationen weitergereicht werden.
Die Meinungen zum Halberstädter Cage-Projekt selbst reichen
von höchster Bewunderung bis zu Spott und strikter Ablehnung.
Sogar Klagen wegen ruhestörenden Lärms kamen aus der Nachbarschaft;
woraufhin die Orgel eine Glasverkleidung erhielt. Im Internetforum
überwiegen Zustimmung und Begeisterung. Alex sieht in der Aktion
„Mut, Tiefe und eine gesunde Portion Humor und Zuversicht“.
Peter Lorenz schreibt: „Je mehr unsere Welt rationaler und
kapitalistischer wird, um so mehr brauchen wir diese scheinbar wert-
und sinnfreien Unternehmungen.“
Für J.-M. Sens bestimmt die „Neue Welt“ die Zeit.
„Dieses musikalische Signal kam von John Cage in das ,Alte
Europa’. Das alte, verwundete Halberstadt gibt das Signal
zurück: dem neuen, starken Amerika.“ Antony grüßt
die Leserinnen und Leser im Jahr 2639 aus dem „Zeitalter des
PC, des Internet und des westlichen Kommerzes“. Sie entschuldigt
sich für die „sinnlose Plünderung des Planeten und
für den übermäßigen CO2-Ausstoß ... Falls
Ihr das lest, habt Ihr es ja geschafft, irgendwie zu überleben.
Eventuell ist diese Kirche nun in einer Glaskuppel eingeschlossen
...“