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nmz-archiv
nmz 2005/09 | Seite 48
54. Jahrgang | September
Oper & Konzert
In die Gegenwart transferiert
Uri Caine bestritt das Eröffnungskonzert des Yehudi Menuhin
Festivals Gstaad
Manche Veränderungen sind so schleichend, dass man sie kaum
wahrnimmt – und dennoch können sie Ausdruck eines tief
greifenden Wandels sein. Wer hätte bis vor wenigen Jahren gedacht,
dass ein ehemaliges „Jazz-Kellerkind“ wie Uri Caine
das Eröffnungskonzert des Traditionsfestivals Yehudi Menuhin
in Gstaad bestreitet. Caine improvisierte am Klavier über und
zur Aufführung der „Variationen und Fuge auf ein Thema
von Händel“ von Johannes Brahms in seiner Version für
Klavier und Kammerorchester.
Der Skandal blieb aus, im Gegenteil, das Publikum, eine Mischung
aus Kennern und Konservativen, gab Standing Ovations. Unabhängig
von der Güte des Experiments kann man den Veranstaltern bescheinigen,
dass sie ihr Kammermusikfestival ganz im Sinne des „Erfinders“
Yehudi Menuhin weiter entwickelt und entstaubt haben. Dass Caine
gerade nach Gstaad engagiert wurde, ist kein Zufall: Der künstlerische
Leiter des Menuhin Festivals, Christoph Müller, ist Intendant
des Kammerorchesters Basel.
Das Brahmsprojekt hatte schon 2004 als Auftragswerk zum 20. Geburtstag
des Kammerorchesters in Basel Premiere. So gelangte in der Kirche
in Saanen ein Experiment auf die Bühne, das als Konzept schon
seine Bewährungsprobe hinter sich hatte. Caine – einer
der wenigen Künstler, die sich kompetent in Klassik und Jazz
bewegen – wendete seine Improvisations-, Dekonstruktions-
und Variationsprinzipien bereits auf Werke von Mahler, Wagner, Schumann
und Bach an. Die Herausforderung, die ihm in den Variationen von
Brahms begegnete, waren besondere: Der Reiz lag in der Brechung
der ursprünglichen Intention Brahms. Denn auch dieser hatte
kein typisches Variationenwerk seiner Zeit geschaffen, sondern vielfältige
historische Bezüge hergestellt: Brahms lehnt sich an den barocken
Vorwurf in Harmonik und Periodik vielfach an, beschließt das
Werk mit einer Fuge und benutzt verschiedentlich das „altmodische“
Verfahren der Fundamentbass-Variation. So wie Brahms Händels
Thema in die Moderne des 19. Jahrhunderts transferiert hatte, so
tat dies 150 Jahre später Caine.
Zweites Werk des Eröffnungskonzertes, Schumanns Sinfonie Nr.
4 op. 120, wurde interessanterweise nicht in der Fassung für
großes Orchester gespielt , sondern in der ersten Fassung
(von 1841) für kleines Orchester. Das Basler Kammerorchester
führte das Werk stehend auf, wie bei der Uraufführung
in Leipzig. Eine spannende Sache, auch wenn Dirigent David Stern
Mühe hatte, seine Musiker, die durch die Architektur der Kirche
völlig auseinander gezogen platziert waren, und zugleich in
einer übervollen Kirchenakustik sich nur schwer hörten,
zusammenzuhalten. Das waren Kleinigkeiten im Vergleich zur großen
Aussage: ein großes Werk der Romantik, zeitgenössisch
dargeboten. Ob dies als Motto fürs ganze Menuhin Festival stehen
darf?
Aufführungen von Christine Schäfer mit dem Freiburger
Barockorchester, András Schiffs Bartòk/Bach-Recital
oder Nachwuchsstars wie die aus Moldawien stammende Geigerin Patricia
Kopatchinskaja und der finnische Pianist Henri Sigfridson mit Cage
bestätigten: Es ist etwas anders geworden in den Klassiktempeln.
Das Neue ist nicht länger ausgesperrt, nicht länger nur
Sache von Spezialfestivals. Und das Publikum ist mit gewachsen.
Gut so.