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nmz-archiv
nmz 2005/09 | Seite 45
54. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Konzerte, Kinderfest, Straßenmusik, Workshops
Das Tanz- und Folkfest Rudolstadt feierte seinen 15./50. Geburtstag
Das diesjährige Tanz- und Folkfest im thüringischen
Rudolstadt, das größte und vielfältigste Weltmusikfestival
Europas, verzeichnete am ersten Juliwochenende mit 65.000 Besuchern
einen neuen Rekord. Die Zahl von 16.600 verkauften Dauerkarten belegt,
dass der anhaltende Erfolg des Festes auch auf das Vertrauen der
Besucher in die Künstlerwahl der Festivalleitung zurückzuführen
ist. Obwohl in diesem Jahr mit dem Länderschwerpunkt Brasilien
und dem „magischen Instrument“ E-Gitarre zwei massenwirksame
Programmpunkte lockten, zeigte der Blick ins 175-seitige Programmheft,
dass auf den zwanzig Bühnen der Stadt keineswegs „die
üblichen Verdächtigen“ der „Szene“ zu
erleben sein würden.
Die künstlerische Leitung hatte der Versuchung widerstanden,
Brasilien nur als Heimat der Samba und der MPB zu präsentieren.
Mit Silvério Pessoa stand der wenig bekannte nordbrasilianische
Forro im Mittelpunkt des Interesses. Der Akkordeonspieler Renato
Borghetti gewährte einen Einblick in die Tradition der südbrasilianischen
Gauchos. Und wer partout im Samba-Rhythmus durch die Straßen
der Stadt ziehen wollte, konnte sich der karnevalesken Banda Furiosa
anschließen. Die Befürchtung, die neun E-Gitarren des
„Magieprojekts“ würden das Festival zum Rock-Event
umpolen, erwies sich als unbegründet. Auch regionale Musikstile,
wie die kenianische Benga von Daniel Owino Misiani, bedienen sich
schon seit den 50er-Jahren der Kraft des Wechselstroms, und ohne
elektrische Verstärkung wäre die Chapman-Stick-Technik
des Usbeken Enver Izmailov, mit der er alle zehn Finger über
das Griffbrett führt, gar nicht hörbar gewesen.
Zum festen Programmbestandteil des TFF gehört inzwischen die
Verleihung des deutschen Weltmusikpreises „RUTH“. Die
Auszeichnung der „Biermösl Blosn“ aus Bayern war
überfällig. Daneben begeisterten vor allem der in München
lebende Libanese Rabih Abou-Khalil mit seiner Fusion aus arabischer
Klassik und Folklore sowie Wolfgang Meyerings Band „Mallbrook“
mit ihren archaischen niederdeutschen Balladen das Publikum der
Preisträgerkonzerte.
Erfahrene Festivalbesucher wissen, dass sie auf dem Tanz- und Folkfest
nicht alle Künstler erleben können. Zu viele Konzerte
laufen auf zu vielen Bühnen parallel. Dieses geplante Überangebot,
das selbst profunde Kenner der Weltmusik zu angestrengtem Blättern
im Programmheft zwingt, kann nur nutzen, wer sich aufs Flanieren
versteht und den Mut aufbringt, etwas zu versäumen. Aber alle
Besucher vertrauen der Auswahl und kommen nach Rudolstadt, um ihren
Horizont zu erweitern. Gerade die unerwarteten Erlebnisse des Festivals
prägen sich ein. Kinderfest, Straßenmusik, Workshops,
Vorträge und die Angebote an den Ständen der Händler
fügen sich mit dem eigentlichen Konzertangebot zu einem TFF-Gesamtkunstwerk,
dessen Ganzheitlichkeit man sich aussetzen muss, ohne es jemals
vollständig erfassen zu können.
Geschichtsbewusst besann sich das diesjährige Festival in
Form eines Symposions zum sozialkritischen Lied auf den 1905 geborenen
DDR-Volkskundler Wolfgang Steinitz und seine Wiederentdeckung der
deutschen Volkslieder demokratischen Charakters. Historie wurde
gewürdigt, doch die 1.052 mitwirkenden Künstler aus 32
Ländern zeigten sich den aktuellen Weltmusikstilen verpflichtet.
Gewiss bot die friedfertige Atmosphäre auch Gelegenheit zu
naivem Eskapismus in eine wenig alltagstaugliche Multi-Kulti-Seligkeit.
Die Programmgestalter einiger ARD-Anstalten scheinen das Festival
deshalb nur für das Treffen einer weltfremden Minderheit zu
halten. Seit 2004 ist die Beteiligung der deutschen öffentlich-rechtlichen
Sender rückläufig, der NDR zog sich vollständig zurück,
der WDR strich 80 Prozent seiner Mittel für das TFF. Sie übersehen
dabei die eigentliche Bedeutsamkeit des bunten Rudolstädter
Spektakels: Es beweist seit seiner Neubegründung 1990, dass
Zehntausende in Rudolstadt und hunderttausende Radiohörer in
Deutschland ihre Wissbegierde für fremde Kulturen befriedigen
möchten.