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nmz-archiv
nmz 2005/09 | Seite 56
54. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Ein ganz und gar abenteuerliches Klangleben
Das 20. Kaleidophon-Festival in Ulrichsberg
Wie der Klang entsteht. Wie er lebt und stirbt. Wie er sich ändert.
Wie er sich mit anderen Klängen trifft. Wie sie miteinander
streiten, wie sie sich versöhnen. Abenteuer des Klangs. Das
innere Leben des Klangs. Die Zauberkunst des Überraschenden,
Unerwarteten, Unbekannten. Klänge außerhalb von Melodien,
Themen, Idiomen, Stilen. Freie Klänge. Das alles konnte man
hören auf dem zwanzigsten Kaleidophon-Festival in Ulrichsberg,
dem kleinen oberösterreichischen Dorf in der Nähe der
deutschen und tschechischen Grenzen.
Freier
Improvisator: Paul Rutherford. Foto: Walter Deixler
Am Anfang waren die legendären Musiker der britischen freien
Improvisation zu hören: das RoToR Trio, mit Paul Rutherford
(Posaune), Keith Tippett (Klavier) und Paul Rogers (E-Bass). Ihr
Spiel war auch nach 40 Jahren Zusammenarbeit noch überraschend:
präpariertes Klavier, Streichbewegungen, ungewöhnliche
Bassartikulation, perfekte Harmonie – besonders zwischen Tippett
und Rogers –, ein berauschendes Spektrum der Klänge,
die auch der die Posaune ohne Dämpfer spielende Rutherford
zu bieten hatte.
Am dritten Tag trat Alexander von Schlippenbach im Soloprogramm
am Klavier auf. Spontan, zweifellos frei, spielte er eine ganze
Stunde, ohne Themen oder Muster. Wenn man darauf achtete, konnte
man das Innenleben der Klänge hören.
Es gibt das Klischee, die freie Improvisation mit „ungewöhnlichen
Klängen“, der Abwesenheit von Melodien gleichzusetzen
oder sie als verdünnte Materie mit seltsamen Eruptionen aufzufassen,
kurz: mit bestimmten Klangeffekten – doch freie Improvisation
ist nur eine Methode des Musikschaffens, die zu sehr verschiedenen
Resultaten führen kann. Das ist vielleicht auf dem Kaleidophon
am besten zu beobachten. Auch wenn, trotz allem, was oben geschrieben
wurde, freie Improvisation wirklich so klingt, wie im Fall der so
genannten Klangimprovisation, wo das Wichtigste der sonore Aspekt
ist. So schien es beim Konzert von Phil Wachsmann (Viola, live electronics),
Michael Bunce (Computer, Sampling) und Paul Lytton (Schlagzeug)
zu sein. Während Wachsmann viele Arpeggi, Mikrotöne und
ernste elektronische Umwandlungen des Klangs einsetzte, nutzte der
berühmte Lytton selten die Standardausrüstung seines Drumsets,
sondern verwendete verschiedenste Dinge, die wir sonst nicht als
„Schlagzeug“ bezeichnen würden und arbeitete mit
ganz einfachen Amplifikationen der Mikrofone; sie spielten zusammen
mit Bunce, dessen Elektronik aber weniger interessant war.
Eine andere Seite der improvisierten Musik zeigten die Bands,
die in der Tradition des Free Jazz spielten und sie mehr oder weniger
entwickelten. Hier sollte man das Gary Hemingway Quartett nennen:
der Leader (Schlagzeug), der Meister der kleinsten Geste, zeigte
meisterliche Technik, atemberaubende Soli und führte das Ensemble
kaum merklich, sodass man nur in plötzlichen Beschleunigungen
die wunderbare Eintracht und den vielen Raum fühlen konnte,
den er seinen Mitgliedern gab. Besonders Herb Robertson (Trompete)
und Mark Helias (Kontrabass) haben das Publikum sichtlich begeistert.
Ganz dem klassischen Jazzidiom verhaftet war das Trio Fieldwork,
dessen Konzert einen der Höhepunkte des Festivals darstellte.
Die jungen Musiker aus New York spielten im Stile von Martin Medeski
& Wood oder Vandermark Five – ein intelligenter, energetischer
Jazz, der oft auf seine Geschichte und verschiedene Stilrichtungen
anspielte. Vijay Iyer musizierte am Klavier auch rhythmisch, die
Soli von Steve Lehman waren sehr klar und nur Tyshawn Sorey prahlte
etwas mit seinen technischen Tricks auf dem Schlagzeug. An diesem
Abend offenbarte sich eines der größten Nachwuchsensembles
des jungen Jazz, was das Publikum genau fühlte.
Ein ganz anderes Gesicht der improvisierten Musik zeigte das Trio
Radian aus Wien, das seit Jahren zu den erfolgreichsten Ensembles
der elektronischen zeitgenössischen Szene gehört. Rhythmisch
sehr präzise und trocken (Martin Bradlmayr, elektronisches
Schlagzeug), im Bassregister minimalistisch und ausdrucksvoll (John
Norman, E-Bass), und in der Elektronik kräftig, tief und dynamisch,
skizzierte Radian ausgedehnte Klanglandschaften, die keinesfalls
langweilten.
Man sollte auch die Misserfolge des Kaleidophons erwähnen.
Das in der freien Improvisation beinahe schon mythische „erste
Treffen“, bei dem Musiker zusammenwirken, die früher
noch nie miteinander gespielt haben, gelang dieses Mal nicht. Andrew
Cyrille auf dem Schlagzeug war selbstverständlich ohne Fehler,
aber seine Verständigung mit Marco Eneidi am Altsaxophon baute
sich nur sehr langsam auf. Er beherrschte durch seine Dynamik die
Szenerie und irritierte Eneidi, der nur uninteressante, langatmige
Phrasen hervorbrachte. Das Ianus Quintett dagegen spielte halb improvisierte,
halb komponierte Musik – und beide Komponenten gaben keinen
Anlass zur Freude. Und hier konnte man das erfahrene und humorvolle
Publikum liebgewinnen: es äffte taktvoll – oder taktlos?
– die kaum hörbaren Klänge der Musiker nach und
reagierte auf alle außerszenischen Geräusche.
Was darüber hinaus beim Kaleidophon so einzigartig ist: Wieder
einmal wurde Ulrichsberg für drei Tage eine Hauptstadt der
improvisierten Musik, war es ein Fest für alle Musiker und
Musikliebhaber, ein Ort, wo die Zeit für ein paar Momente stehen
geblieben ist.