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nmz-archiv
nmz 2005/09 | Seite 46
54. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Begeisterung für die Musik, Leidenschaft fürs Instrument
China-Schwerpunkt und ein neues Campus-Projekt bei young.euro.classic
2005
Immer dann, wenn in Berlin die großen Bühnen und Konzerthäuser
durch ihre Sommerpause den August in einen kulturell eher lauen
Monat verwandeln, weiß das young.euro.classic-Festival die
Gunst der Stunde zu nutzen und bietet den Daheimgebliebenen und
den Zugereisten einen beachtlichen europäischen Musiksommer,
der begeistert aufgenommen wird. Aus dem Überraschungserfolg
des jungen und ungewöhnlichen Festivals im Sommer 2000 ist
folgerichtig ein wichtiger Bestandteil des sommerlichen Kulturprogramms
Berlins geworden. Zum sechsten Mal rollte man vom 5. bis 22. August
den glamourösen hellblauen Europa-Teppich mit den vielen gelben
Klebesternen über der hohen Freitreppe des Konzerthauses auf
Berlins schönstem Platz, dem Gendarmenmarkt, aus und machte
so schon optisch normale Konzertbesucher zu special-guests eines
Galafestivals.
Karl Friedrich Schinkels klassizistischer Bau wurde zu Beginn der
achtziger Jahre aufwendig restauriert und ist seither Berlins prächtigster,
wenn auch nicht unbedingt akustisch bester Konzertsaal. 38 Büsten
bedeutender Komponisten schmücken seine Wände. Weißer
Schleiflack, roter Samt, Kristallleuchter, Marmor und Blattgold
geben den festlichen Rahmen.
Neue Aspekte
Wiederholungen können eine spannende Angelegenheit sein,
wenn es gelingt, Bekanntem und Beliebtem neue Aspekte hinzuzufügen.
young. euro.classic 2005 unterschied sich in mehrerlei Hinsicht
von den musikalischen Sommerfesten der Vorjahre. Diesmal kamen die
Jugendorchester aus Ländern, die weit außerhalb Europas
liegen und deren musikalisch-kulturelle Traditionen mit denen Europas
wenig zu tun haben.
Über Belarus, die Ukraine und Russland wurde der Blick weit
in den Osten auf das Musikleben in Kasachstan und China geleitet.
Studentenorchester der Konservatorien Beijing und Shanghai markierten
die Eröffnung und die Mitte des Festivals – China, ein
Land im Aufbruch, ein Land mit Zukunft, ein Land, das sich mit seinem
wirtschaftlichen Aufschwung auf den Weg zur Weltmacht begibt, liebt
die europäische, insbesondere die klassische und romantische
Musik. Chinesische Musiker, vor Jahren nur spärlich auf den
Podien der musikalischen Metropolen vertreten, begeistern inzwischen
weltweit das Publikum. Viele Lehrer der chinesischen Hochschulen
stammen aus Europa und hier vorrangig aus Deutschland und Österreich,
oder sie haben an europäischen und amerikanischen Einrichtungen
studiert und sind dabei, das dort Gelernte an die nachfolgende Musiker-Generation
in ihrer Heimat weiterzugeben.
Begeisterung für die Musik, Leidenschaft für ihr Instrument
und natürlich auch Lampenfieber spürte man bei allen jungen
Interpreten, egal ob sie aus China, Schottland, Italien, Österreich
oder Deutschland nach Berlin gereist waren, um hier ihr Können
unter Beweis zu stellen. Beckmesserei, hier über seltene Patzer
zu berichten oder über Stücke, die durch ihren großen
Schwierigkeitsgrad, die jungen Musiker auch schon mal überforderten.
Was in den 17 Konzerten zählte, war die Frische und Spontaneität
der Darbietung auf hohem musikalischen Niveau. Bei der Programmgestaltung
weiß sich young.euro.classic der großen Musikkultur
verpflichtet, der stark besetzten Orchestermusik des 19. und 20.
Jahrhunderts. Die musikalische Jugend von heute verbindet mit dem
Orchester vorrangig „groß“ besetzte Musik. Das
Festival will in Form der symphonischen Musik das ganze Spektrum
des modernen Instrumentariums zeigen und vorführen. Ganz bewusst
werden daher viele Musiker eingeladen. Generell sollen sich alle
1.500 Mitwirkenden, gleich ob Geiger, Englischhornist, Tubist, Kontrabassist
oder Schlagwerker angesprochen und aufgefordert fühlen.
Traditionell spielen die Jugendorchester wenigstens ein Stück
eines zeitgenössischen nationalen Komponisten, teilweise Auftragswerke
von young.euro.classic. Das gibt den Konzerten internationale Farbigkeit
und dem Zuhörer einen wenn auch kleinen Eindruck vom Musikgeschehen
der verschiedenen Heimatländer. Wo hat man sonst schon die
Möglichkeit zum Beispiel die Zheng (eine Art altchinesischer
Zither) konzertant zu erleben? So waren in den drei Festivalwochen
wie in den Vorjahren wieder zahlreiche Kompositionen zu hören,
die im hiesigen Konzertleben bislang nicht oder kaum bekannt geworden
sind.
Getragen von dem Wunsch über mögliche nationale Vorbehalte
hinweg gemeinsam künstlerisch zu arbeiten, sich kennen zu lernen,
auszutauschen und zu ergänzen, entstand 2004 das in diesem
Jahr intensivierte „Campus-Projekt“: Die Musiker zweier
Orchester aus verschiedenen Ländern bilden ein „neues“
Orchester und erarbeiten das Programm gemeinsam. 60 Jahre nach dem
Ende des Zweiten Weltkrieges taten dies in diesem Jahr die Junge
Philharmonie Russland und die Junge Sinfonie Berlin. Die russischen
Musikstudenten lernen und arbeiten am Konservatorium von St. Petersburg
und kommen aus allen Teilen der russischen Föderation, während
die deutschen Musiker zwar auch aus verschiedenen Landesteilen stammen,
sich aber nur zwei Mal im Jahr zu intensiver Probenarbeit treffen.
Unter der Leitung von Alexandré Sladkowski boten sie am
21. August ein deutsch-russisches Programm. Mit Richard Strauss’
„Don Juan“ und Peter I. Tschaikowskys „Francesca
da Rimini“ wurde die große Orchestertradition des 19.
Jahrhunderts präsentiert, flankiert von je einem nationalen
Auftragswerk: Olga Rajewas „Vorfall auf der Straße“
und Anno Schreiers „Nachtstücke (Durchbrochene Szene
II)“. Die musikalische Leistung des Campusorchesters war überzeugend
und zeigte, dass über Sprachbarrieren hinweg, trotz Festival-Stress
und Lampenfiebers motivierte und begabte Musiker innerhalb weniger
Tage zu einem homogenen Zusammenspiel finden können. Das Publikum
dankte mit lang anhaltendem begeistertem Applaus. Zwei Tage nach
dem Berliner Auftritt stellte man das gemeinsam erarbeitete Programm
in der Zeche Zollverein in Essen vor. Begleitet wurde das Projekt
in Berlin vom RBB Fernsehen und in Essen von einem Kamerateam des
WDR unter der Regie des Spaniers Enrique Sánchez Lansch,
der mit seinem Kinofilm „Rhythm is it“ über ein
Tanzprojekt mit den Berliner Philharmonikern großes Aufsehen
erregt hat.
Ausverkaufte Häuser
Wie fest sich das young.euro.classic-Festival schon im Berliner
Musikkalender etabliert hat, sieht man an der Auslastung. Reisezeit
hin, laue Sommerabende her: Vom ersten bis zum letzten Tag spielte
man vor ausverkauftem Haus. Bei vielen Konzerten reichten die 1.562
Plätze bei weitem nicht aus, alle Nachfragen zu berücksichtigen.
Lange Schlangen warteten dann vor der Abendkasse auf zurückgegebene
Karten. Doch wo sind die vielen jungen Zuhörer geblieben, die
diesem Festival in früheren Jahren das Flair und den besonderen
Reiz gaben, das fröhliche Lachen und Schäkern vor Beginn
und in den Pausen, die laut und lärmend diskutierenden „Experten-Runden“,
die gellenden Begeisterungszurufe und -pfiffe? Unauffällig
aber beharrlich hat sich peu a peu ein eher mittelaltes Publikum
die Mehrheit im Konzertsaal erobert. Die musikbegeisterten pfiffigen
Fünfziger haben herausgefunden, dass man nirgends in der Stadt
so gut und so preiswert erstklassige Konzerte hören kann. Dem
Rechnung tragend sollte man an den (zu) niedrigen Einheits-Eintrittspreis
von neun Euro für die nicht mehr ganz so jungen „Besser-Verdiener“
spürbar erhöhen und damit ein keines Basiskapital für
das kommende Jahr erwirtschaften.