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nmz-archiv
nmz 2005/09 | Seite 16
54. Jahrgang | September
Forum Musikpädagogik
Gefangen im Regelkreis
Zum Verhältnis von Musikindustrie und schulischer Musikerziehung
Die im Zuge der Bildungsreform der 60er-Jahre zunehmende Berücksichtigung
popularer Musik im Unterricht an weiterführenden Schulen wurde
als notwendige Abwehrstrategie vor kulturindustrieller Manipulation
begründet. Im Sinne eines durch das Mündigkeitspostulat
geleiteten Bildungsverständnisses galt es, im schulischen Musikunterricht
das Bedingungsfeld und die Wirkungsweise popularmusikalischer Ausdrucksformen
vom Schlager bis zum Pop-Song aufzudecken und dadurch den zu unkritischer
Identifikation mit den Pop-Stars neigenden Jugendlichen die Chance
zur kritischen Distanz und letztlich zur Urteilsfähigkeit im
Bereich dieser musikalischen Idiomatik zu bieten. Es entwickelte
sich aus dieser Zielsetzung heraus eine eigenständige „Didaktik
der Popularmusik“. Sie stellte dem Lehrenden unter exemplarischen
Gesichtspunkten ausgewählte Unterrichtsmaterialien zur Verfügung
und bot Verfahrensweisen zur Analyse und Interpretation popularer
Musik an.
Sehr bald stellte sich heraus, dass die Unterrichtsinhalte starker
Fluktuation ausgesetzt waren, da ihre Auswahl fast ausschließlich
dem Prinzip der Aktualität unterworfen war. Diese wiederum
war längst nicht mehr geleitet durch jugendpsychologische Reflexion,
sondern wurde zunehmend stärker gesteuert durch die Distributionsmechanismen
der Musikindustrie.
Die Didaktik der Popularmusik war schnell der Gefahr der Fremdsteuerung
durch die Gesetze des Marktes ausgesetzt. Der Auswahlprozess der
Unterrichtsinhalte erfolgte nicht mehr auf der Basis der Wertung,
sondern wurde bestimmt durch die vom Markt angebotenen Hit-Listen.
Diese Tendenz verstärkte sich bis in die Gegenwart hinein.
So werden heute Liederbücher für den Musikunterricht
konzipiert, deren Inhalt fast ausschließlich durch eine popularmusikalische
Idiomatik bestimmt ist, von der man weiß, dass sie nur für
eine relativ kurze Zeit das Interesse der Jugendlichen weckt und
sehr bald von neuartigen, durch den Musikmarkt gesteuerten Angeboten
verdrängt wird. Zwar wird der Versuch gemacht, eine gewisse
über den Tag hinaus wirkende Bedeutsamkeit der Songs durch
zeitgeschichtliche Informationen und interpretatorische Bemerkungen
herauszustellen, doch bleiben diese häufig recht vordergründig
und werden sogleich durch marktorientierte Hinweise auf Hit-Listenplätze
und verkaufte Titel im Interesse der Musikindustrie umfunktioniert.
Nur selten gelingt es, sich aus der Umklammerung des Marktes zu
befreien und den popularmusikalischen Inhalten eine bewusstseinsbildende
Richtung zu geben.
Die Erfahrung bestätigt, dass popularmusikalische Unterrichtsinhalte
sich weitgehend der Reflexion entziehen. Ihre musikdidaktische Valenz
liegt eher auf dem Feld der Musikpraxis. Hier können sie durch
geeignete Arrangements die Musizierfreude auch derjenigen Schülerinnen
und Schüler wecken, die aus den verschiedensten, nicht zuletzt
auch sozialen Gründen nicht in den Genuss einer privaten oder
durch die Musikschulen geförderten Musikausbildung kommen.
Musikalische Stereotypen
Allerdings sollten die Grenzen einer einseitig popularmusikalisch
ausgerichteten Schulmusikpraxis deutlich aufgezeigt werden. Das
Musizieren beschränkt sich weitgehend auf die reproduzierende
Realisation musikalischer Stereotype: die Begleitung melodischer
Abläufe vollzieht sich durch rhythmische „Pattern“,
die lediglich wiederholt werden; harmonische Begleitmuster sind
auf wenige Akkordwechsel reduziert; die Melodik selbst ist stark
formelhaft, so dass durch eine popularmusikalische Vokalpraxis das
Tonvorstellungsvermögen nur begrenzt entwickelt wird. Es sollte
von einseitigen Verfechtern einer popularmusikalischen Didaktik
nicht verschwiegen werden, dass der im Prinzip repetitive Einsatz
der musikalischen Primärkomponenten (Rhythmik, Melodik, Harmonik)
in der Popmusik eine musikalisierende Wirkung nur in begrenztem
Maße ermöglicht.
Aus dieser Erfahrung heraus sollte auch der Einbezug popularmusikalischer
Inhalte in die Gesamtplanung des schulischen Musikunterrichts begrenzt
sein. Die vielerorts zu beobachtende Dominanz der Popmusik im Unterricht
entspricht nicht dem Auftrag der Schule, junge Menschen auf das
Verständnis der gesamten Musikkultur vorzubereiten, sie musikalisch
zu entkulturieren. Ihnen die vielfältigen Ausdrucksformen der
musikalischen Hochkultur mit dem Argument vorzuenthalten, sie entsprächen
nicht „ihrer Musik“, ist zutiefst menschenverachtend.
Kann sich der schulische Musikunterricht angemessen legitimieren,
wenn er es nicht zu seiner zentralen Aufgabe macht, eine kulturelle
Trägerschicht zu erziehen, deren Rezeptionsverhalten auf individuelle
Urteilsfähigkeit gründet und vor musikindustrieller Vereinnahmung
geschützt ist?
Wie kann die schulische Musikerziehung der wachsenden Abhängigkeit
von der Musikindustrie entgegenwirken? Notwendig ist eine erneute
Entideologisierung der Schulmusik: Im Zuge der in den 60er-Jahren
einsetzenden berechtigten Traditionskritik hat sich ein Nebeneffekt
herausgebildet, der hinsichtlich des musikalischen Kulturbegriffs
allerdings von verhängnisvoller Tragweite wurde. Statt sich
mit dem Ziel einer zu begreifenden Tradition ihren substantiellen
Inhalten durch analytische Bemühung zuzuwenden, ordnete man
„klassische Musik“ kurzerhand und unbedenklich einer
als „bildungsbürgerlich“ apostrophierten Gesellschaftsschicht
zu, deren Anspruch durch ein vermeintlich demokratisches Bildungskonzept
abgelöst werden sollte. Diese unreflektierte, ganz und gar
ideologisch motivierte Position gewann auf dem Feld der Schulmusikerziehung
zuneh-mend stärker an Boden und führte nach und nach zu
der aus der Balance geratenen Planungssituation, die heute zu beobachten
ist: Die anfänglich peripheren Ausdrucksformen der Popularmusik
(damals noch als „subkulturell“ eingestuft) rückten
mehr und mehr ins Planungszentrum, während die Ausdrucksformen
der „klassischen“ Musik an den Rand gedrängt wurden.
Das Vorantreiben dieses Prozesses bedurfte keiner großen Anstrengung,
da das musikindustriell gesteuerte Rezeptionsverhalten der Jugendlichen
ihm entgegen kam. Die von führenden Schulmusikpädagogen
für den musikalischen Bildungsprozess ausgegebene leitende
Parole, die Schüler dort abzuholen, wo sie seien, hat sich
in der Schulwirklichkeit zumeist leider so ausgewirkt, dass sie
dort stehen bleiben, wo sie – mediengesteuert – sich
befinden. Ein Bildungsprozess, der auf das Verstehen komplexer musikalischer
Kunst gerichtet ist, vollzieht sich heute nur noch ansatzweise und
in Ausnahmesituationen.
Entfremdung von der Klassik
Inzwischen ist es dahin gekommen, dass – unter dem Vorwand
einer „praxisnahen“ Musiklehrerausbildung – manche
Ausbildungsinstitute sich im didaktischen Bereich stärker an
popularmusikalischer Idiomatik orientieren als an „klassischer“
Idiomatik, so als sei der Umgang mit der Musik Bachs, Mozarts oder
Beethovens praxisfern.
Die – auch finanziell – aufwendige künstlerische
Ausbildung der Studierenden dient zuweilen eher einem privaten Ästhetisierungsprozess
als der Vorbereitung auf eine gesellschaftsdienliche schulmusikalische
Berufspraxis, deren zentrales Anliegen die Vermittlung einer musikalischen
Hochkultur sein müsste mit dem Ziel, die Kontinuität der
Musikkultur zu garantieren.
Es stimmt nachdenklich, wenn man das Engagement zahlreicher aus
der ganzen Welt an deutsche Musikhochschulen strömender junger
Menschen für „klassische“ Musik vergleicht mit
dem mangelnden Einsatz vieler Schulmusikerzieher für diese
Tradition. Dem fortschreitenden, bildungspolitisch und auch institutionell
geförderten Entfremdungsprozess von „klassischer“
Musik sollte nunmehr Einhalt geboten werden.