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nmz-archiv
nmz 2005/09 | Seite 14
54. Jahrgang | September
Gegengift
Die Politik der Lumpen
Wer gewählt werden will, muss sich zeigen. Luhmann, der große,
anachronistische Weltgeist der Jahrtausendwende, und einige andere
haben festgestellt, dass überhaupt nur der existiert, der in
den Medien vorkommt. Esse est percipi, sein heißt wahrgenommen
werden, hieß das schon ein paar Jahrhunderte früher,
am Beginn der Moderne, beim Bischof Berkeley.
Weil aber, nach dieser sehr speziellen Logik, alles im Auge des
Betrachters liegt, zählt nicht so sehr die Sache, um die es
angeblich geht, sondern die Inszenierung und wie sie ankommt. Der
wahlkämpfende Politiker wird so zum Künstler, ja zum Musiker,
der vor allem auf den Sound seiner Botschaften achten muss. Der
Ton macht dann die Musik und es kommt darauf an, wie das Ganze klingt.
Gerd Schröder ist bekanntlich ein begabter Tonmeister. Und
man kann schon verstehen, dass „Angie” Merkel das intime
Kammerspiel vor Fernsehkameras scheut. Als Bayreuth-Kennerin weiß
sie, dass Götterdämmerungen überaus vertrackte Angelegenheiten
sind. Edmund Stoiber dagegen, seit 2002 waidwund, tut so, als sei
er Hagen von Tronje höchstpersönlich und könne jeden
zur Strecke bringen, der sich ihm stelle. Seine engsten Berater
konnten ihn nur mit Mühe davon abbringen, den Fernseh-Showdown
mit dem Saarland-Siegfried respektive -Napoleon Oskar Lafontaine
zu suchen.
Alte Recken und junge Helden finden sich in diesen schicksalsschwangeren
Zeiten freilich zuhauf, auch und gerade in der Kunstszene. Grass
zum Beispiel, Nobelpreisträger, praeceptor germaniae und Retter
der Sozialdemokratie, hat eine wackere Schar, von Peter Rühmkorf
bis Julie Zeh, hinter sich versammelt, vermutlich um Heuschrecken
und anderen mythischen Bestien Paroli zu bieten. Vielleicht feiert
er aber auch nur sein eigenes, nun schon mindestens 40 Jahre währendes
Engagement; oder den 100. Geburtstag von Jean-Paul Sartre, den Erfinder
und Verkörperer des engagierten Intellektuellen, der möglicherweise
nicht alles weiß, aber unter alles, was gut klingt, seine
Unterschrift setzt.
In wessen Namen spricht Grass (oder gar Julie Zeh), könnte
man fragen. Er selbst würde vermutlich, wahrheitsliebend wie
ein Politiker, sagen: nur in seinem Namen, als Bürger Grass.
Würde dieser Bürger Grass aber Meier oder Müller
heißen, würde seine Meinung nicht weiter interessieren.
Er zehrt, wenn er Partei ergreift, von seinem Ruhm als Schriftsteller.
Während man einen berühmten Boxer, wenn er sein politisches
Statement abgibt, belächelt, lauscht man dem Poeten mit einer
gewissen Ehrfurcht, wenn er sich zu Dingen äußert, von
denen er so viel oder so wenig versteht wie jeder andere auch.
Grass – und er steht hier nur stellvertretend, pars pro
toto – ist leider selbst im hohen Alter weit von der Weisheit
eines Jean-Luc Godard entfernt, der einst sagte, es käme nicht
darauf an, politische Filme zu machen, sondern politisch Filme zu
machen. Also nicht Meinungen abzusondern, die so beliebig sind wie
die Meinungen aller anderen, sondern zu erforschen und zu zeigen,
wie das Filmemachen funktioniert. Also zuerst und vor allem: nicht
den Bildern auf den Leim zu gehen, sondern sie zu analysieren, sie
durchsichtig und handhabbar zu machen. Ein politischer Filmemacher
wäre also einer, der die Wahrnehmung schult – und gegen
Lügen und Suggestionen immunisiert. So wie ein politischer
Musiker einer wäre, der einen hellhörig macht; am besten
gegen alle falschen Töne.
Das erschien aber den großen Komponisten und Dirigenten
als zu bescheiden – oder zu schwierig. Lieber wollten sie,
wie Pierre Boulez, die Opern in die Luft sprengen, bevor sie sich
dann doch mit den großen Häusern arrangierten. Oder sie
gingen, wie Luigi Nono, in das Zentralkomitee der Kommunistischen
Partei und in die Fabrik. Oder sie leisteten, wie Henze, Kärrnerdienste
in der musikalischen Provinz; was vergleichsweise sinnvoll war,
was aber auch Herr oder Frau Jedermann hätten erledigen können.
Das naheliegendste Missverständnis, wenn es um Künstler
und die Politik geht, ist das „inhaltistische”, wie
es einst Brecht nannte. Als müsse man, wenn man die Welt retten
wolle, nachts um halb fünf vor Fabriktoren stehen, in die Partei
eintreten oder zumindest eine Wählerinititative gründen;
oder, wie es bei Komponisten von John Adams bis Franz Hummel der
Fall ist, Schlüsselszenen der Weltgeschichte vertonen. Solange
aber ein Komponist nach einem politischen Stoff sucht, solange ist
er kein politischer Komponist, sondern höchstens ein Windmacher
oder Windbeutel, einer, der sein Fähnchen nach dem Wind hängt
und sich und seinem Publikum einreden möchte, er sei der große
Sturm.
Es waren, das vergessen die „politischen” Intellektuellen
gern, die Despoten aller Zeiten, die Engagement verlangten, eine
Parteinahme für die gute Sache. Die Weltretter und Heilsexperten
waren immer schon die Maestri des großen Pathos. Die Kunst
aber besteht nicht darin, möglichst virtuos in das Horn zu
blasen, an dem sich alle zu schaffen machen, sondern für Dissonanz,
Differenz, Dissidenz zu sorgen. Und manchmal, wenn’s zur nationalen
Parade kommt, sollten sich die Künstler so verhalten wie das
Kind in Andersens legendärem Märchen und schlicht sagen,
was Sache ist: „Der Kaiser ist ja nackt.”