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nmz-archiv
nmz 2005/09 | Seite 1
54. Jahrgang | September
Leitartikel
Annamalie
Seit den Salzburger Festspielen anno zweitausendzwei grassiert
ein Virus in der Mozartstadt. Das so genannte Anna-Fieber erfasste
vor allem ältere männliche Festivaliers, die sich plötzlich
wieder jung fühlten, als sie den in den Formen einer Frau auftretenden
Bazillus auf der Bühne als Mozarts Donna Anna erblickten, im
kurzen modischen Kleidchen, mit hübschen Beinchen und insgesamt
höchst appetitlich anzuschauen. Die Aussicht, sich mit dem
weiblich personifizierten Virus heuer (österreichisch für:
in diesem Jahr) erneut infizieren zu können, ja: zu dürfen,
löste einen Ansturm auf Impfstoff, sprich: Eintrittskarten,
aus, der selbst das wohl trainierte Salzburger Kartenbüro ins
Schwitzen brachte: Nicht nur die Alten, alle verlangten nach dem
Serum, das süchtig macht, und wer keine Tickets mehr ergatterte,
selbst nicht für zweitausend Euro auf dem Schwarzmarkt, der
nahm sich für den Abend der Premiere nichts anderes vor als
das Anna auf dem Bildschirm zu erleben.
Anna enttäuschte keinen Verehrer. Sie zeigte, was sie konnte,
was man von ihr erwartete und sogar noch mehr. Das kurze rote Kleidchen
erinnerte an die Donna Anna, die Beinchen waren auch wieder zu sehen
und viel eindrucksvoller: Wie schnell sie über die frei geräumte
Riesenbühne des Großen Festspielhauses zu flitzen verstanden,
wie equilibristisch sie über Stuhl- und Sofalehnen eine Art
Knieaufschwung zu vollführen vermochte, und erst die entzückenden
Schenkelchen, die sich bei soviel Turnerei zwangsläufig entblößten:
Manche Mannsbilder inklusive einiger sonst so cool-schnoddriger
Kritikas-ter verloren schier Verstand und Bewusstsein. Das Anna-Virus
überflutete die Hirne und so alles andere auch.
Nun hat, um das Virusgleichnis zu verlassen, Opernbegeisterung,
die sich an einem Star entzündet, eine fast ebenso lange Geschichte
wie das Genre selbst. Es ist ja nichts dagegen einzuwenden, wenn
eine Sängerin, auch ein Sänger, die Menschen enthusiasmiert.
Anna Netrebko, die aparte Russin mit lebendigen dunklen Augen und
Model-Figur, entfacht einen solchen Enthusiasmus, der sogar diejenigen
ergreift, die noch nie ein Opernhaus betreten haben und nun via
Fernsehen erfuhren, wie eine Opernaufführung überhaupt
aussieht. Jedermann glaubt jetzt zu wissen, wer oder was Verdis
„La Traviata“ ist: eine Art „Lustige Witwe“
mit vielen Festen und, leider, traurigem Ausgang.
Nachdem sich der Anna-Nebel verzogen hat, bemerkt man erst, was
er gnädig verdeckte: Die pauschalen Klänge aus dem Orchestergraben
vom angeblich besten Opernorchester der Welt, die in diesem Anspruchsrahmen
kaum akzeptablen Koloraturbemühungen der gleichwohl umjubeltosten
Donna Anna, die szenische Zurichtung, die in ihrer so genannten
Vergegenwärtigung kaum noch verständlich machen kann,
worin eigentlich die menschliche Tragödie der Geschichte liegt.
Viele Menschen kennen jetzt Anna Netrebko, wie sie singt, springt
und hustet, aber Verdis Oper immer noch nicht. Vielleicht gibt es
das Werk demnächst authentischer im nahen Stadttheater.