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nmz-archiv
nmz 2005/09 | Seite 4
54. Jahrgang | September
Magazin - Klebe
Zeit als Intensität und Qualität
Dem Komponisten Giselher Klebe zum 80. Geburtstag
Das mittlerweile nahezu 150 Opern umfassende kompositorische Œuvre
Giselher Klebes nimmt in seiner bemerkenswerten schöpferischen
Vielfalt wie auch in seiner kompromisslos radikalen, keiner modischen
Strömung und Attitude verpflichteten Eigenständigkeit
eine außergewöhnliche Stellung in der Musikgeschichte
nach 1945 ein. Klebes biografisch-politisch und ethisch-sittlich
begründeter Entwicklungsprozess förderte geradezu zwangsläufig
eine heute rar gewordene Trias geistiger Haltungen, welche sich
allen Menschen in seinem Lebensumfeld, insbesondere aber seinen
Studenten im Zuge der Erörterung fundamentaler kompositionstechnischer
und ästhetischer Fragen deutlich mitteilt: unbedingte Integrität,
menschliche Souveränität und unverbrüchliche Treue
zu sich selbst.
Streben
nach Klarheit und Einfachheit: Giselher Klebe. Foto: Sonja
Klebe
Bereits im Vorschulalter erfuhr Klebe durch seine Mutter intensive
ganzheitliche musische Prägung und Förderung, welche sich
über die reine Unterweisung im Instrumentalspiel hinaus auf
die Entwicklung eigener kleiner Kompositionen, aber auch auf eine
früh zu Tage tretende zeichnerische Begabung erstreckte. Dieses
schöpferische Spiel in der eigenen Vorstellungswelt war für
Klebe der innere Fluchtpunkt vor der Unstetigkeit seiner äußeren
Lebensbedingungen, welche durch einige rasch aufeinander folgende
Ortswechsel (von Mannheim über Rostock nach Berlin), insbesondere
aber auch durch die Trennung seiner Eltern gekennzeichnet waren.
Bereits im Alter von 13 Jahren stand für Klebe, der zu diesem
Zeitpunkt Skizzen erster kleiner Kompositionen anfertigte, der Entschluss
fest, möglichst bald ein Musikstudium aufzunehmen. Ab 1940
begann er seine musikalische Ausbildung am Städtischen Konservatorium
Berlin in den Fächern Violine, Viola und Komposition. Durch
den politischen Wagemut seiner Musikgeschichtsdozenten Hans Boettcher
und Hermann Halbig ergab sich für den jungen Studierenden die
einmalige Gelegenheit, die zu dieser Zeit als „entartet“
geltenden Werke Schönbergs, Hindemiths und Strawinskys kennen
zu lernen. Klebes ethisch-religiöse und politische Grundeinstellung
förderte seine Immunität gegen die nationalsozialistischen
Verführer und ließ ihn mit Abscheu die Untaten der Schergen
des Regimes erleben, wobei die Zerstörung der Synagoge in der
Fasanenstraße zu einem Schlüsselerlebnis wurde.
Durch die Bekanntschaft mit dem kommunistischen Maler Fritz Ohse,
der von der Klavierlehrerin Klebes in einer Dachkammer versteckt
wurde, nahm der Jugendliche aus eigener Erfahrung Anteil an Leid
und Elend der Verfolgten und Verlorenen. Fritz Ohse führte
Klebe in die revolutionäre Ästhetik der damals verbotenen
Maler ein, darunter auch Paul Klee, dessen diaphane Bildwelt eine
besondere „Faszination optischen Erlebens“ auf den jungen
Menschen ausübte. Von der Nachhaltigkeit dieser frühen
Eindrücke zeugt Klebes 1950 in Donaueschingen uraufgeführtes
Werk „Die Zwitschermaschine“, Metamorphose über
das gleichnamige Bild von Paul Klee für großes Orchester
op. 7.
Neuanfang
Nach Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft nahm Klebe sein Musikstudium
wieder auf und belegte am Internationalen Musikinstitut in Berlin-Zehlendorf
das Fach Komposition bei Josef Rufer. Die wichtigsten gestalterischen
und formalstrukturellen Anregungen verdankt Klebe einem komprimierten
Privatstudium bei Boris Blacher, dem er sich bis zu dessen Tode
in tiefer Freundschaft verbunden fühlte. Im Jahre 1957 wurde
Klebe zum Nachfolger Wolfgang Fortners an die Nordwestdeutsche Musikakademie
berufen; 1962 erhielt er durch seine Ernennung zum ordentlichen
Professor für die Fächer Komposition und Musiktheorie
jene wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, welche ihm die Möglichkeiten
eröffneten, sich ohne ökonomische Zwänge seiner kompositorischen
Tätigkeit zu widmen.
Tiefe Einsichten
Klebes kompositorische Entwicklung vollzog sich in den 50er-Jahren
unter dem Aspekt einer tiefen Einsicht in die Universalität
der Möglichkeiten dodekaphoner Strukturen, welche er mit Blachers
Technik der variablen Metren kombinierte. Zeitgleich beschäftigte
er sich intensiv mit dem Opernschaffen Giuseppe Verdis, dessen Einfluss
das Gesamtwerk Klebes über Jahrzehnte hinweg in formal-struktureller,
materieller (etwa als unerschöpflicher Zitatfundus), subjektiv-psychologischer
und expressiver Hinsicht (im Sinne eines polaren Spannungsverhältnisses
von dramatischer Expression und lyrischer Verinnerlichung) nachhaltig
prägte. Zudem liegt Klebes „Streben nach Klarheit und
Einfachheit“ des Ausdrucks bei allerdings äußerster
struktureller Komplexität in seiner starken Affinität
zum Werke Verdis begründet.
Klebes integrale ästhetische Konzeption entwickelte sich
auf der Basis seiner kritischen Betrachtungen zu „einer immer
stärker auf die Horizontale konzentrierten dodekaphonen Kompositionstechnik“,
deren Schwerpunkte er auf die Vertikalität des musikalischen
Satzes zu verlagern trachtete. Zudem ermöglichen ihm umfangreiche
permutative Prozesse im Ablauf der Reihengestalten äußerst
variable Klangkonstellationen für eine auffallend bruchlose
Integration dreidimensional-tonaler Strukturen in vierdimensional-atonale
Kontexte. Dieses allgegenwärtige Merkmal Klebescher Kompositionstechnik
erscheint eng verwoben mit einem speziellen integralen Zitatverfahren,
das vorzugsweise tonalitätsgebundene musikalische Vorlagen
unterschiedlichster historischer und stilistischer Provenienz nahtlos
in einen dodekaphon-atonalen Kontext einbindet. Diese eher im Material
verhaftet erscheinenden Erkenntnisse spiegeln die philosophisch-ästhetische
Konzeption Klebes allerdings auf eindrucksvolle Weise wider: das
Zeitintegral dreier, eng miteinander verwobener Zeitformen, womit
Klebe zu einem besonderen Verhältnis zum Zeitphänomen
gelangt, das Zeit als Intensität und Qualität versteht,
die beinahe alle bisherigen Zeitformen umfasst.
Neben sieben Sinfonien, zahlreichen Orchesterwerken, fünfzehn
Solokonzerten, fünf Balletten, einer wahren Fülle kammermusikalischer
Kompositionen unterschiedlichster Besetzungen, einem umfangreichen
Klavierwerk sowie einigen bedeutenden geistlichen Kompositionen
(darunter ein Weihnachtsoratorium) verdient insbesondere das mittlerweile
dreizehn Werke umfassende, Geist und Struktur der italienischen
Oper des 19. Jahrhunderts neu belebende Opernschaffen Klebes besondere
Beachtung. Dieses hochkomplexe Œuvre erscheint ausschließlich
dem Genre der Literaturoper verpflichtet, wobei die jeweils ganz
individuelle dramatische Kraft und Musikalität der Sprache
Shakespeares, Goethes, Schillers, Kleists, Balzacs, Horváths,
Zuckmayers, Werfels, Sostshenkos und Synges ihre adäquate Widerspiegelung
in einer subtil abgestimmten, klangkoloristisch inspirierten, in
die Schichten des Nicht-Mehr-Sagbaren hinabreichenden instrumentatorischen
Konzeption findet. So gelangt in Klebes sechster Oper „Jacobowsky
und der Oberst“ (nach dem gleichnamigen Theaterstück
von Franz Werfel) ein aktweise höchst unterschiedlich besetztes,
in verschiedenen Funktionen zum Hauptorchester hinzutretendes „Orchester
hinter der Szene“ zur psychologischen Ausdeutung dramatisch
bedeutsamer Situationen zum Einsatz; in der Oper „Das Mädchen
aus Domremy“ op. 72 reduziert Klebe das Instrumentarium auf
eine Klangkonstellation von vier Klavieren, Cembalo, Harfe sowie
große Schlagzeugbesetzung und kombiniert diesen spezifischen
Instrumentalklang mit Tonbandeinspielungen, welche über Lautsprecher
den Schlachtenlärm moderner Kriegsführung in den Raum
projizieren.
Klebes Opernästhetik zeichnet sich insgesamt durch Integration
charakteristischer, geschlossener, dreidi-mensionaler Strukturen
wie Arien, Duette, Chorszenen, große Ensembles, Schlusstableaus
in seine überwiegend vierdimensional-dodekaphone Klangsprache
aus. Unter formalstrukturellen Aspekten vollzieht Klebe eine besondere
Synthese nummernopernhafter und musikdramatischer Vorstellungen,
wobei im allgemeinen Elemente der Durchkomposition das Gerüst
der Nummernoper auf höchst unterschiedliche Weise durchströmen.
Klebes Überlegungen zur Textverständlichkeit führten
zwangsläufig zur Präferenz eines an Monteverdi geschulten,
der Prosodie Janáceks so-
wie dem Mozartischen Parlando-Stil verpflichteten syllabisch-deklamatorischen
Gesangsstiles, wobei, durchaus in Gegenposition zur Wagnerschen
Deklamatorik, die Gesangsstimme den Primat über das Orchestergeschehen
besitzt.
Überzeitliche Gültigkeit
Klebes erfolgreichste Oper „Jacobowsky und der Oberst“
leistet in ihrer überzeitlichen Gültigkeit angesichts
wiedererstarkender, verhängnisvoller nazistischer Tendenzen
einen eminent wichtigen Beitrag zur „Erziehung nach Auschwitz“:
die Idee der Versöhnung von Christen- und Judentum vor dem
Hintergrund der Vernichtungstotale des Zweiten Weltkrieges, dargestellt
in der Konstellation der Gestalten des Ewigen Juden und des Heiligen
Franziskus auf der Ebene überzeitlicher Bedeutung und in der
Beziehung des katholischen polnischen Obersten Stjerbinsky zu dem
Juden Jacobowsky auf der Ebene dramatischer Aktualität. Die
konfliktreiche Zwangsgemeinschaft der beiden Protagonisten Jacobowsky
und Stjerbinsky, beide aus guten Gründen auf der Flucht vor
den zügig auf französischem Territorium vormarschierenden
deutschen Truppen, wandelt sich nach fundamentalen inneren und äußeren
Krisen in eine von Hochachtung und tiefer Menschlichkeit getragene
Freundschaft, welche letztendlich das Überleben beider sichert.
In diesem Kontext wirkt Marianne, die Geliebte des Obersten, zunächst
Konflikt verschärfend, am Ende jedoch erscheint sie als Mediatrix,
als Göttliche Mittlerin, die alle Konflikte in sich vereinigt
und in sich aufhebt. Im polaren Spannungsfeld dramatischer Expression
und lyrischer Introversion entwickelt Klebe einen kompositorischen
Plan, welcher die Aufteilung des Handlungsgeschehens in vier ineinander
übergehende Akte mit insgesamt 31 von musikdramatischen Vorstellungen
perfundierten Nummern höchst unterschiedlicher und abwechslungsreicher
Gestaltung vorsieht.
Die komplexe leitmotivische Konzeption der Oper basiert auf einem
differenzierten, die dramatis personae, ihre psychischen Befindlichkeiten,
bestimmte Situationen und Zustände sowie Beziehungskonstellationen
charakterisierenden Reihenplan. Auf der Ebene der Hör- und
Nachvollziehbarkeit werden durch Reihenpermutationen einige kennzeichnende,
den gesamten musikalischen Satz durchströmende „leitmotivische
Figuren“ zur Personen- und Situationscharakterisierung gewonnen.
Zum dritten symbolisiert eine ebenfalls dem Reihenplan immanente
g-Moll-Melodie als „Leitmelodie“ in höchst unterschiedlichen
Erscheinungsformen das dramatisch bedeutsame Lebensmotto des Protagonisten
Jacobowsky, welches ihm immer wieder die „Wahl zwischen zwei
Möglichkeiten“ eröffnet, letztendlich jedoch durch
unaufhaltsamen Ablauf der Ereignisse ad absurdum geführt wird.
Klebes Werk steht in fortwährendem polaren Spannungsverhältnis
von dramatischer Ausdruckskraft und lyrischer Innerlichkeit, wobei
der Aspekt des Expressiv-Dramatischen eindeutig überwiegt.
Nach dem Tode seiner Frau Lore, Gefährtin über viele Jahrzehnte
und Librettistin der meisten Opern Klebes, durchwirkt ein eher düster-dramatischer
Tenor das sinfonische Altersopus des Komponisten. Insgesamt erscheint
kaum ein Werk auf den ersten Blick mit dem anderen vergleichbar,
ist es doch in formalstruktureller, instrumentatorischer und affektiver
Weise ein Unikat und bis auf sehr wenige Ausnahmen dem Komponisten
nahe stehenden Menschen in ganz persönlich geprägten Lebenssituationen
gewidmet, wodurch ein jedes bereits seine Besonderheit in sich trägt.
Diese Disparität des Gesamtœuvres wird jedoch in Klebes
spezifischer übergeordneter integraler Kompositionstechnik
geeint, sodass tiefste Verschiedenheit und tiefste Zusammengehörigkeit
ineinsfließen.
Brigitte Schäfer
Literatur:
• Komponisten der Gegenwart, 30. Nachlieferung 2005 (B.
Schäfer)
• MGG, Personenteil, Bd. 10 (B. Schäfer)
• B. Schäfer: Jacobowsky und der Oberst nach dem Bühnenstück
von Franz Werfel; Peter Lang Verlag 2000
• Michael Rentzsch: Giselher Klebe – Werkverzeichnis;
Bärenreiter 1997