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nmz 2005/09 | Seite 3
54. Jahrgang | September
Magazin - Mangelsdorff
Frankfurt Sound und Weltmusik
Zum Tod des Posaunisten und Komponisten Albert Mangelsdorff ·
Von Andreas Kolb
Wie der französische Komponist Olivier Messiaen war auch Albert
Mangelsdorff leidenschaftlicher Ornithologe. Die Parallelität
zwischen ihm und Messiaen sei zufällig, betonte Albert Mangelsdorff,
doch wie für diesen waren auch für Albert Mangelsdorff
die vielfältigen Rufe und Klänge der Vögel Fundgrube
und Inspiration. Sobald es die ersten tragbaren Tonbandgeräte
gab, lag Albert Mangelsdorff auf der Lauer in der Natur oder vor
den Volieren der Zoos. „Vieles hat mich inspiriert. Aus dem
Unterbewusstsein sind Dinge erschienen, die von dort kamen.”
Seine Riesensammlung an Vogelrufen konnte er nicht mehr auswerten,
doch allein das Hören, Aufnehmen, Nachsingen und -spielen war
eine unerschöpfliche Inspirationsquelle für ihn. Vielleicht
ist darin das Geheimnis der einzigartigen Klangrede des am 25. Juli
nach schwerer Krankheit verstorbenen Posaunisten zu suchen.
Frankfurter
und Weltbürger: Albert Mangelsdorff. Foto: Ssirus W.
Pakzad
Wie Messiaens Werk nimmt auch Mangelsdorffs Musik eine singguläre
Stellung ein. Sein Spiel, seine Kompositionen tragen eine Handschrift,
die sich augenblicklich – nach den ersten zwei, drei Takten
– ihrem Urheber zuordnen lässt. Mangelsdorff gehörte
gewiss nicht zu denen, die sich ihr Leben lang mit Standards beschäftigen.
Dennoch zählte er – ähnlich wie Dave Holland oder
Steve Lacy – noch zu der Generation von Musikern, die tief
in den Jazztraditionen verwurzelt waren. Schon in den vierziger
und dann in den frühen fünfziger Jahren arbeitete sich
Mangelsdorff durch das Dixie-, Swing- und Bebop-Repertoire des Jazz.
Nur auf dieser Grundlage ist das Schaffen des späteren Avantgarde-Musikers
zu verstehen. Weder verzichtete Mangelsdorff auf den jazztypischen
Swing, noch auf eine harmonische Grundierung. Selbst sein freies
Spiel scheint immer einen Bezugspunkt in der Tradition zu haben.
Als Improvisator war er ein Meister der ad-hoc-Komposition: Derart
dramaturgisch ausgefeilte Improvisationen wie bei Mangelsdorff hört
man selten.
Albert Mangelsdorff war der Botschafter des deutschen Jazz in
der Welt: In den USA, dem Geburtsland des Jazz, war er jahrzehntelang
der einzige europäische Jazzmusiker, der dort überhaupt
wahrgenommen wurde. Der amerikanische Pianist John Lewis titulierte
ihn bereits 1964 als den „wichtigsten Innovator des Posaunenspiels“.
Und der Prophet galt auch im eigenen Landes etwas: Albert Mangelsdorff
war Namensgeber des wichtigsten Deutschen Jazzpreises, des „Albert-Mangelsdorff
Jazzpreises“ (seit 1994). Er war 1958 Gründungsmitglied
des Jazzensembles des Hessischen Rundfunks und schrieb mit diesem
Ensemble Jazzgeschichte.
Obwohl der Weltmusiker Mangelsdorff immer wieder betonte, dass
es „so etwas wie den deutschen Jazz nicht gibt“, den
„Frankfurt Sound“, zu dessen Klangfarben er Maßgebliches
beisteuert, gab es fraglos. Bis zuletzt gehörte er zum Stadtbild,
wenn er täglich mit seinem Instrument in den Frankfurter Jazzkeller
ging. Tägliches Üben war auch für den Ausnahmeposaunisten
die Grundlage seines Könnens und seiner Virtuosität.
In Frankfurt hatte alles begonnen – nicht erst in den Clubs
der amerikanischen Befreier und Besatzer, schon längst vorher
– mitten in den letzten Kriegsjahren – hatte sich Albert
Mangelsdorff für den Jazz als seine ureigenste künstlerische
Ausdrucksform entschieden. Vor der eigenen Karriere standen die
„Vorbilder“. Dazu zählten in den frühen Jahren
nicht etwa bekannte Posaunisten, sondern der Bruder Emil Mangelsdorff
und dessen Clique. Die Frankfurter Jazzszene, darunter Carlo Bohländer,
Horst Lippmann, Paul Martin oder Hans Otto Jung, gehörten zu
den frühen Einflüssen, die Albert Mangelsdorffs spätere
Karriere formten.
Etwa ab 1941 nahm Emil Mangelsdorff seinen drei Jahre jüngeren
Bruder in die Rokoko-Diele an der Kaiserstraße mit, dem Domizil
der Frankfurter Hot Jazz Szene. Damit er älter aussah, steckte
er den 13-Jährigen in einen Anzug. Emil und Albert Mangelsdorff
lebten in diesen Jahren, geprägt auch durch das sozialdemokratische
Elternhaus, in bewusster Opposition zum NS-Staat. Mit dem vitalen
Jazz begehrte man gegen die Konformität der NS-Kunst auf. Doch
bald begann die Gestapo sich für das Treiben der Frankfurter
Swing-Freunde zu interessieren, die Bedingungen wurden schwieriger,
man traf sich immer mehr privat. Die Gestapo war es auch, die die
Aufhebung einer Zurückstellung von Emil Mangelsdorff vom Arbeits-
und Wehrdienst aufhob – mit schlimmen Folgen: 1944 wurde Emil
Mangelsdorff zur Wehrmacht beordert und konnte seine Karriere erst
1949 fortsetzen, als er aus russischer Gefangenschaft zurückkehrte.
Albert war glücklicherweise zu jung für die Front. Erst
als er kurz vor Kriegsende zum Volkssturm eingezogen werden sollte,
mussten er und vier seiner Freunde sich für einige Wochen im
Taunus verstecken.
Mangelsdorff, der 1941 noch allein mit der Stimme zu den Platten
seines Bruders improvisierte – ein Instrument besaß
er damals nämlich noch nicht – nahm ab 1947 Posaunenunterricht
bei Fritz Stähr, dem Soloposaunisten der Frankfurter Oper.
Autodidaktisch brachte er sich das Gitarre spielen bei, außerdem
lernte er bei seinem Onkel in Pforzheim Violine und Harmonielehre.
Das war sein gesamtes „Musikstudium“ – seine Profikarriere
begann er 1947 als Rhythmusgitarrist in der Otto-Laufner-Bigband,
mit der er in Clubs der US-Armee spielte. Dieser Start verhalf ihm
sicher auch zu dem, was heute unter jungen Musikern eine Rarität
ist: stilistische Vielseitigkeit bei gleichzeitiger früher
Ausprägung eines markanten eigenen Stils.
So gab es schon vor dem mehrstimmigen Spiel auf der Posaune –
dem späteren Markenzeichen Mangelsdorffs – einen typischen
Mangelsdorff-Sound, den Volker Kriegel in seiner Laudatio zum 70.
Geburtstag von Albert Mangelsdorff so treffend beschrieb, dass er
hier zitiert werden soll: „Wir möchten noch einmal darauf
hinweisen, dass Albert einen eigenständigen musikalischen Dialekt
entwickelt hat. Neuartige und ungewöhnliche Melodiewendungen
jenseits aller Skalenroutinen gehören dazu, eine Vorliebe für
überraschende, weite Intervallsprünge, für trickreich
verzinkte und gekonnt angetäuschte Rhythmusfiguren, für
mehrdeutige Akkorde und für eigenwillige Akkordfortschreitungen.“
Fünf Jahre vor seinem eigenen frühen Tod erinnerte der
viel jüngere Kriegel in dieser Rede auch an den für seine
eigene Karriere so wichtigen Zuruf Albert Mangelsdorffs im Frankfurter
Jazzkeller: „Komm spiel bissje mit“.
Jazz aus Europa
Mangelsdorff war bereits Mitte zwanzig, als die endgültige
Entscheidung für sein Instrument, die Posaune, fiel. 1953 ging
der Posaunist zur Hans-Koller-Band, 1955 wechselte er für zwei
Jahre zum Radio-Tanzorchester des Hessischen Rundfunks. Danach übernahm
er die Leitung des hr-Jazzensembles, einer Idee des Frankfurter
Jazzpioniers Horst Lippmann. Die Mitglieder der Gruppe hatten und
haben keine kommerzielle Aufgabe: Die Idee war es, Jazz frei von
allen Zwängen des Marktes zu erfinden und zu spielen. Die Positionen
Emil und Albert Mangelsdorffs sowie Joki Freund waren über
Jahrzehnte gleich besetzt, die Gästeliste dagegen ist internationale
Jazzgeschichte. Mit dem hr-Jazzensemble aber auch mit dem Albert
Mangelsdorff Quintett mit Günter Kronberg, Heinz Sauer, Günter
Lenz und Ralf Hübner war der Frankfurter einer der wichtigen
Vorkämpfer des europäischen Jazz.
Beschreibt man Albert Mangelsdorffs Entwicklung, dann braucht
es keine Stilkunde, sondern nur eine Liste der Namen seiner Mitspieler.
Der Titel seiner Duo-LP „Albert Mangelsdorff and friends“
ist Konzept. Wenn Albert Mangelsdorff mit Kollegen spielte, dann
ließ er sich auf diese niemals nur musikalisch ein. Duos spielte
Albert Mangelsdorff mit Don Cherry, Attila Zoller, Wolfgang Dauner,
Lee Konitz, Elvin Jones, Karl Berger und vielen mehr. Dabei interessierte
sich der Posaunist weniger für die spezifischen Klangmöglichkeiten
diverser Duokombinationen. „Es kommt weniger auf die Instrumente
an, als auf die Personen“, war seine Auffassung.
Sound, Interaktion, Groove: Es gibt eine weitere Besetzung, die
Albert Mangelsdorffs Wünschen als Improvisator, Komponist und
Interpret schon immer ideal entgegenkam. Das Trio mit Posaune, Bass
und Schlagzeug. Legendäre Aufnahmen sind „The Wide Point“
(1975) mit Palle Danielsson (b) und Elvin Jones (dr), „Trilogue“
(1976) mit Jaco Pastorius (el-b), Alphonse Mouzon sowie „Albert
Live in Montreux“ (1980) mit dem kürzlich verstorbenen
Jean Francois Jenny-Clark (b) und Ronald Shannon Jackson (dr). Dass
die beiden letztgenannten Aufnahmen Live-Mitschnitte sind, passt
zum Konzept Mangelsdorffs: Er war ein großer Improvisator,
der in seinen Gruppen darauf achtete, dass trotz aller Freiheit,
die Kontrolle über den musikalischen Prozess nie verloren ging.
Erst wenige Wochen vor dem Tod Mangelsdorffs hatte Michael Naura
eine Aufnahme vom „144th NDR Jazzworkshop“ aus dem Jahr
1979 erstmals veröffentlichte und damit die Mangelsdorff-Trio-Aufnahmen
um ein Kleinod erweitert. Der Frankfurter Posaunist traf 1979 in
Hamburg mit dem Norweger Arild Anderson (b) und Schweizer Pierre
Favre (dr) zusammen. Es entstanden inspirierte Einspielungen verschiedener
Mangelsdorff-Stücke, ergänzt um zwei Andersen-Beiträge.
Der Solist und die Big Band
Der Posaunist war sich trotz seiner Soloerfolge nie zu schade,
im Satz einer Big Band mitzuspielen. Wichtige Stationen waren im
Freejazz das Globe Unity Orchestra Alexander von Schlippenbachs,
beinahe zur gleichen Zeit war er Gründungsmitglied der Fusion
Band United Jazz & Rockensemble. Wichtige Produktionen kamen
mit Big Bands von NDR und WDR zustande. Er war Chef des deutsch-französischen
Jugendjazzorchesters und Präsident des Landesjugend-Jazzorchesters
Hessen (LJJO). Der Solist vergaß niemals die Heimat seines
Instruments, die Big Band, und legte großen Wert darauf, Big-Band-Kultur
weiter in die Zukunft zu entwickeln. Sein letztes Programm fürs
Jazzfest Berlin im Herbst 2000 war folgerichtig auch eine Leistungsschau
der großen Jazzensembles wie dem Danish Radio Orchestra, dem
Klaus König Orchester oder dem finnischen UMO Jazz Orchestra.
Grenzüberschreitungen reizten ihn: Mangelsdorff spielte Freie
Musik mit Friedrich Gulda, Free Jazz mit Peter Brötzmann, Rockjazz
mit Volker Kriegel, er gab einen musikalischen Kommentar auf Wolf
Biermanns LP „Trotz alledem“ ab und absolvierte ein
Gastspiel in der Rockband von Klaus Lage. Häufig arbeitete
er mit Perkussionsensembles zusammen, etwa Peter Gigers Family of
Percussion. Das konnte swingen oder eher motorisch daherkommen,
er fühlte sich auch zu Hause in den komplexen rhythmischen
Strukturen indischer Musik, ja selbst im Feuer der Elektrobeats
von Reto Weber.
Das wichtigste Alleinstellungsmerkmal des Posaunisten soll auch
in dieser Würdigung des Posaunenmeisters nicht unterschlagen
werden, sein Solospiel: 1972, im Olympiadorf in München, gab
er sein erstes Solokonzert und wurde quasi über Nacht „Weltmeister“
auf der Posaune. Bis zu diesem Auftritt hatte er zwei Jahre Arbeit
in sein mehrstimmiges Spiel investiert und „bis zum Abend
davor noch im Frankfurter Jazzkeller geübt“. Es wurde
ein sensationeller Erfolg. Seine Technik, die er bei den Hornisten
abgeschaut hatte, bestand im Anblasen eines Tons und gleichzeitigem
Singen ins Mundstück. Durch Differenztonbildung von unterschiedlich
gespielten und gesungenen Tönen entstehen Obertöne, die
wie Akkorde klingen. Heute kann das jeder Posaunist, angefangen
bei Robin Eubanks über Ray Anderson bis hin zu Nils Wogram.
Aber keiner von ihnen hat so intensiv und systematisch an einer
Akkordlehre der Posaune gearbeitet wie Albert Mangelsdorff.
Die Mehrstimmigkeit wurde Mangelsdorffs Markenzeichen – und
ein wenig auch seine Manie. Vielleicht ist diese ganz spezielle
Färbung seiner Stücke der Grund, dass sie wenig im Repertoire
der Kollegen zu finden sind? Oder ist es der Respekt vor dem Übervater
der Jazzposaune? Albert Mangelsdorff hätte sicher nichts dagegen
gehabt, wenn zukünftige Cover-Versionen seiner Musik nicht
von Posaunisten, sondern von Gitarristen, Pianisten, Saxophonisten,
Sängern oder anderen gespielt würden. Denn: „Es
kommt weniger auf die Instrumente an, als auf die Personen.“