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nmz-archiv
nmz 2005/09 | Seite 7
54. Jahrgang | September
Magazin -
Prieberg-Dokumentation
Plädoyer für unerbittliche Genauigkeit
Konsequenzen der Prieberg-Dokumentation für die Musikforschung
· Von Albrecht Dümling
Wer es wagte, sich mit der Musikgeschichte des Dritten Reichs auseinander
zu setzen, galt in der Bundesrepublik Deutschland lange Jahre als
Außenseiter. Auch heute noch soll es ältere Musikwissenschaftler
geben, die solche Forschungen als fachfremd abtun. Fred K. Prieberg
hat sich diesen Widerständen schon früh widersetzt. Obwohl
er seine Untersuchungen seit 1956 auf eigene Initiative und außerhalb
des akademischen Betriebs durchführte, sind sie deswegen nicht
minder seriös. Nach seinem längst zum Standardwerk avancierten
Buch „Musik im NS-Staat” (1982), einer Furtwängler-Studie
„Kraftprobe” (1986) und dem Essay-Band „Musik
und Macht” (1991) legte er zuletzt als Zusammenfassung seiner
Untersuchungen im Selbstverlag die umfassende CD-ROM-Dokumentation
„Handbuch Deutscher Musiker 1933–1945” vor. (siehe
auch nmz 4-05, S. 45)
Diese Dokumentensammlung zu circa 40.000 Musiktiteln und 5.500
Persönlichkeiten, die sich als work-in-progress versteht, ist
schon heute weit umfassender als jede andere zur Musik unter der
NS-Diktatur. Es ist deshalb unverständlich, dass ein führender
deutscher Musikologe, zugleich Herausgeber des neuen MGG, dem Autor
mangelnde Datenkenntnis vorwarf. Trotz notwendiger Lücken,
die nicht Prieberg anzulasten sind, gibt die Sammlung einen repräsentativen
Überblick über das Musikleben jener Jahre. Staunend erfährt
man, welch hohen Stellenwert funktionale Musik, meist Lieder und
Gelegenheitswerke, einmal besaß. Anders als heute wurde im
damaligen Deutschland viel gesungen. Werktitel wie „Die stolze
Wehrmacht“ oder „Glauben, gehorchen, kämpfen“
scheinen aus einer anderen Welt zu kommen. Und doch haben solche
Machwerke, deren Existenz nach 1945 peinlich verschwiegen wurde,
dieses Land einmal geprägt. Niemand, der sich mit der deutschen
Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts befasst, kann Priebergs Dokumentation
ignorieren.
Die hohe Zahl heroisch-vaterländischer oder offen nationalsozialistischer
Titel belegt das Ausmaß, mit dem die Musiker sich der NS-Ideologie
andienten. Es waren nicht nur einige wenige „Spezialisten“
wie Hans Baumann oder Herms Niels, die die Wünsche der NS-Organisationen
erfüllten. Vielmehr stellte sich eine Mehrheit der damals tätigen
Komponisten in den Dienst der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft”.
Wohl in keiner anderen Berufsgruppe war die Zustimmung zum neuen
Staat so groß wie gerade unter Musikern. Deren aktive Mitwirkung
dokumentiert sich in ihren Werken, aber auch in ihrer NSDAP-Mitgliedschaft.
Ausgehend von dem ihm zugänglichen Material nimmt Prieberg
an, dass zwei Drittel der deutschen Musiker der Partei beitraten.
Tatsächlich hatte der neue Staat mit beträchtlichen Investitionen
die extreme Arbeitslosenquote im Musikbereich rasch abgebaut. Die
Entlassung von Ausländern und so genannten Nichtariern machte
weitere Stellen frei. Deutsche Musiker hatten also Grund, dem NS-Staat
Dankbarkeit zu demonstrieren.
Prieberg lässt die Dokumente selbst sprechen, sodass oft
der Leser entscheiden muss, wieweit er die betreffende Person als
Opfer, Täter oder Mitläufer einstuft. Ein Beispiel: Der
Gewandhauskapellmeister Hermann Abendroth forderte einerseits die
Rassenforschung und setzte sich andererseits für den „Nichtarier”
Günther Raphael ein. Im Juni 1938 schrieb er mutig einem Veranstalter:
„Zwar bin ich Arier von Geburt…, ich bin aber nicht
gewillt, mich an einem Unternehmen zu beteiligen, das das Judentum
planmäßig boykottiert. Die Juden sind Menschen wie wir.”
Zivilcourage bewies auch die Witwe des Komponisten Max von Schillings,
als sie gegen die Darstellung ihres Mannes als gläubigen antisemitischen
Vorkämpfer des NS-Staats protestierte. Bislang galt Schillings,
der als Akademie-Präsident die Entlassung ihrer jüdischen
Mitglieder Franz Schreker und Arnold Schönberg verantwortete,
tatsächlich als ein solcher Vorkämpfer. Um so ernster
ist zu nehmen, wenn seine Witwe dieses damals nützliche Etikett
noch während der NS-Zeit zurückwies. Auch der Geiger Gustav
Havemann gehörte 1933 zu den Hauptverantwortlichen für
„Säuberungen“. Der CD-ROM ist zu entnehmen, dass
Staatskommissar Hans Hinkel ihn 1935 wegen seiner „philosemitischen
Einstellung“ tadelte. Offenbar sind nicht nur bei Künstlern
wie Furtwängler, Hindemith und Karajan, sondern auch bei den
bislang eindeutig als Täter geltenden Musikern Differenzierungen
angebracht. Die Frage der Wertung wird oft eine schwierige, nicht
immer befriedigend zu lösende Aufgabe bleiben.
Angesichts des hohen Anteils von Parteimitgliedern überrascht,
dass hochrangige Funktionäre wie Richard Strauss und Peter
Raabe, beide nacheinander Präsidenten der Reichsmusikkammer,
der NSDAP nicht angehörten. Das zu Raabe präsentierte
Material zeigt, wie dieser angesehene Dirigent und Liszt-Forscher
trotz erheblichen Widerstandes schließlich ein Werkzeug des
Propagandaministers wurde. (Nina Okrassa ist in ihrem 2004 bei Böhlau
erschienenen Raabe-Buch diesem Widerspruch nachgegangen.) Dass der
Verzicht auf Parteimitgliedschaft nicht notwendig Distanzierung
bedeuten muss, belegt die Karriere Werner Egks. Die Dokumentation
beweist umfassend sein Wirken als NS-Ideologe. Sie belegt auch den
antisemitischen Hintergrund seiner Erfolgsoper „Die Zaubergeige“:
das Märchenspiel „Der Jude im Dorn“, das sich damals
großer Beliebtheit erfreute.
Wie Werner Egk haben sich auch andere Komponisten zu Widerstandskämpfern
stilisiert. Prieberg entlarvt solche Legenden. Den Vorwurf der „Geschichtsfälschung“
richtet er besonders häufig gegen den kanadischen Historiker
Michael Kater, dem groteske Fehler unterliefen. So berechtigt Priebergs
Forderung nach Genauigkeit ist, so schießen seine Vorwürfe
doch gelegentlich übers Ziel hinaus. Auch seine eigene Dokumentation
ist nicht fehlerfrei. Hermann Abendroth beispielsweise stieg nicht
erst nach der Entlassung von Walter Braunfels zum Direktor der Kölner
Musikhochschule auf, sondern hatte schon vorher gemeinsam mit diesem
die Hochschule geleitet. Solche Fehler lassen sich leicht korrigieren.
Fraglich ist auch, ob der für die Urheberrechtsgesellschaft
STAGMA verantwortliche Leo Ritter als Musiker zu bezeichnen ist.
Insgesamt aber besticht diese Dokumentation durch Genauigkeit
und Materialreichtum. Wer sie durchgearbeitet hat, wird auf manche
liebgewordene Klischees verzichten und das Bild der Täter wie
das der Opfer differenzieren müssen. Mit Betroffenheit nimmt
man beispielsweise zur Kenntnis, wie verständnisvoll der große
Fritz Kreisler sich 1933 über die neue Regierung äußerte.
Entgegen den gängigen Lexika behielt er seinen Berliner Wohnsitz
bis 1939 bei. Auch der mit einer Jüdin verheiratete Komponist
Hanning Schröder wurde keineswegs, wie man bisher annahm, aus
der Reichsmusikkammer ausgeschlossen. Fast unglaublich erscheint,
dass Siegfried Borris dort noch bis 1941 als Mitglied geführt
wurde. In der Summe fordern solche Korrekturen eine gründliche
Revision der bisherigen Geschichtsschreibung heraus.