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nmz-archiv
nmz 2005/09 | Seite 6
54. Jahrgang | September
Magazin - Komponierhäuschen
Vom Experiment zur Erfolgs-Story
Zum 25. Jubiläum der Gustav Mahler Musikwochen in Toblach
Auf den ersten Blick unterscheidet das Südtiroler Dorf Toblach
eigentlich wenig von anderen typischen Fremdenverkehrsorten der
Region. Es gibt eine barocke Dorfkirche, viele Hotels und natürlich
eine herrliche alpine Landschaft. Und dennoch: Etwas ist anders
in Toblach. Wer sich im Juli oder August dorthin begibt, wird feststellen,
dass der Geist eines Komponisten über dem Ort schwebt –
der Geist Gustav Mahlers. Überall hängen Plakate mit seinem
Konterfei, in der Ortsmitte steht ein Mahler-Denkmal, und die Abgrenzung
des Fußwegs, der auf dem Gelände des Grand Hotels den
Konzertsaal mit der Cafeteria verbindet, zieren Verse aus dem „Lied
von der Erde“. Diese Omnipräsenz kommt nicht von ungefähr:
Toblach ist der Ort, in dessen Nähe der Komponist in den Jahren
1908 bis 1910 seine Sommerurlaube verbrachte und die letzten drei
Werke seines Œuvres schuf: das „Lied von der Erde“,
die Neunte und das Fragment der Zehnten Sinfonie.
Daniel
Harding im Komponierhäuschen. Fotos: nmz-Archiv
Nach der ersten erfolgreichen Saison in New York 1908 befand sich
Mahler auf der Suche nach einem neuen Sommerrefugium. Nach Maiernigg
am Wörthersee wollte er auf keinen Fall zurück. Dort war
im Juli 1907 seine älteste Tochter Maria Anna gestorben, und
bald darauf wurde Mahlers Herzerkrankung festgestellt. Bereits kurz
darauf hielten sich Mahler und seine Familie in oder bei Toblach
auf, und Ende Mai 1908 entdeckten Gustav und Alma den Trenkerhof,
keine zwei Kilometer von Toblach entfernt. Dort zog Mahler Mitte
Juni bereits ein, und ganz in der Nähe ließ er sich,
wie auch schon vorher in Steinbach am Attersee und in Maiernigg
ein Komponierhäuschen bauen. In dieser Holzhütte schrieb
er seine letzten Werke.
Hatte Mahler anfangs noch Eingewöhnungsschwierigkeiten, schwärmte
er schon bald von seinem neuen Sommerdomizil: „Ich befinde
mich in diesem Sommer auf neuem Terrain“, schrieb er im August
1908 an Adele Marcus. „Es ist wundervoll hier, und die Abgeschlossenheit
und Ruhe dieses Plätzchens erlaubt mir, mich wieder in gewohnter
Weise einzuspinnen.“ Die Toblacher Sommerfreuden wurden für
Mahler im Sommer 1910 allerdings zur Tortur, als er hier vom Verhältnis
seiner Frau Alma mit dem Architekten Walter Gropius erfuhr.
Ende der siebziger Jahre gab es in Toblach erste Bestrebungen,
in Zusammenhang mit Gustav Mahler etwas zu organisieren –
was genau, wusste man vorerst noch nicht; das Bedürfnis war
zuallererst, durch Mahler den Ort Toblach bekannter zu machen. Die
Pläne nahmen allerdings recht bald konkrete Gestalt an, und
im Sommer 1981 fand die erste „Musikwoche in memoriam Gustav
Mahler“ statt, nachdem kurz zuvor das Gustav-Mahler-Komitee
gegründet worden war. Als künstlerische Leiter firmierten
in den ersten Jahren Heinz Klaus Metzger und Ugo Duse. Von Anfang
an waren Gespräche und Vorträge über Mahler Bestandteil
der Veranstaltung – eine Konzeption, die nicht zuletzt aus
der Not geboren war, denn Konzertsäle, in denen man Mahler-Sinfonien
hätte aufführen können, gab es in Toblach (noch!)
nicht. Mangels einer Aufführungsmöglichkeit für großorchestrale
Werke entschied man sich, Reduzierungen und kammerorchestrale Bearbeitungen
Mahler’scher Werke aufs Programm zu setzen, etwa aus dem Umkreis
von Arnold Schönbergs „Verein für musikalische Privataufführungen“.
Diese Praxis stieß nicht überall auf Gegenliebe, und
überhaupt gab es einige Anfangsschwierigkeiten künstlerischer
sowie menschlich-persönlicher Art, die zu einem raschen Wechsel
der künstlerischen Leiter führten. Auf Metzger und Duse
folgten Quirino Principe (1984), der Mahler-Biograph Henry-Louis
de la Grange (1986), der Südtiroler Komponist Hubert Stuppner
(1988) und der Wiener Pianist Rainer Keuschnig (1991). Seit 1994
liegt die künstlerische Leitung nun in den Händen von
Josef Lanz.
Gedankenaustausch
In Toblach wird keine Event-Kultur zelebriert, sondern hier treffen
sich Begeisterte und Fans, um sich (nicht nur) über Mahler
auszutauschen. Es herrscht eine enorm offene und kommunikative Atmosphäre,
und man muss kein Musiker oder Musikwissenschaftler sein, um sofort
akzeptiert zu werden und an den lebhaften Diskussionen teilzuhaben
– in der Konzertpause, nach dem Konzert und anschließend
im Hotel. Und nicht zuletzt spielt beim Gesamtambiente der Mahler-Wochen
die Landschaft, die der Komponist so liebte, eine entscheidende
Rolle. Gilbert Kaplan, in diesem Jahr zum ersten Mal in Toblach
zu Gast, bringt es auf den Punkt: „Man spürt wirklich
die Verbindung zwischen der Natur hier in Toblach und der Musik,
die Mahler hier schrieb. Und dann natürlich: Mahlers Hotelzimmer
zu besuchen und das Komponierhäuschen, wo er seine letzten
Werke schrieb – das muss jedem ans Herz gehen, der diese Musik
liebt.“
Foto:
nmz-Archiv
Seit 1981 hat sich naturgemäß einiges entwickelt. So
gibt es seit 15 Jahren das „Toblacher Mahler-Protokoll“
und den dazugehörigen Schallplattenpreis „Toblacher Komponierhäuschen“.
Beide Projekte wurden von Attila Csampai ins Leben gerufen, der
dem Festival seit 1991 verbunden ist. Das „Mahler-Protokoll“
bündelt die Vorträge, die schon immer das Festival mitgeprägt
haben und versteht sich als „Brennspiegel der internationalen
Mahler-Rezeption“ (Csampai).
Seit 1999 gibt es endlich einen „echten“ Konzertsaal
im Gebäudekomplex des ehemaligen Grandhotels, das zum Kulturzentrum
umfunktioniert wurde. Die klare Akustik des Gustav-Mahler-Saals
bietet nun die Möglichkeit, Mahlers Sinfonik im adäquaten
Ambiente zu rezipieren.
Dem „Mahler-Protokoll“ wurden 2004 die „Toblacher
Mahler-Gespräche“ zur Seite gestellt – ein Projekt
der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft Wien. Nach den Worten
von Erich Wolfgang Partsch, Vizepräsident der Mahler-Gesellschaft,
verstehen sich die Gespräche als „eine Ergänzung
mit einem anderen Schwerpunkt. Das Mahler-Protokoll ist vor allem
auf Rezeption ausgerichtet und hat durch den Schallplattenpreis
in diesem Gebiet seinen ganz eigenen Bereich. Wir wollen jeweils
zu einem bestimmten Generalthema in Form von Vorträgen Blickpunkte
setzen. In diesem Jahr ist es ‚Mahler in Toblach’, im
nächsten Jahr geht es um ‚Mahler und Russland’
– einmal etwas ganz anderes“.
Bleibt noch zu erwähnen, dass das ursprünglich lediglich
eine Woche umfassende Festival unter Josef Lanz’ künstlerischer
Leitung im Jahre 2000 auf vier Wochen ausgedehnt wurde (seitdem
der Name „Gustav Mahler Musikwochen“) und dass seit
2002 auch andere Gemeinden an den Veranstaltungen teilhaben –
im Sinne eines „Hochpustertaler Kultursommers“.
Die 25. Toblacher Gustav Mahler Musikwochen standen also unter
dem Motto „Gustav Mahler in Toblach“. Konsequenterweise
gelangte die „Toblacher Trilogie“ im Mahler-Saal zur
Auführung. Das vorwiegend aus jungen Musikern bestehende ungarische
Danubian Symphony Orchestra interpretierte unter Leitung des Dirigenten
Domonkos Héja das Adagio aus der 10. Sinfonie sowie das „Lied
von der Erde“ – zumindest auf orchestraler Ebene eine
ungemein beeindruckende Darbietung. Der chinesische Dirigent En
Shao leitete das Radio Sinfonie Orchester Ljubljana in der Sinfonie
Nr. 9. Ferner gab es zwei Liederabende mit Stefanie Irányi
(Sopran), Konrad Jarnot (Bariton) und Helmut Deutsch (Klavier);
auf dem Programm standen Werke von Mahler und Strauss. Das italienische
Trio di Parma überzeugte mit fein austarierten und lebensvollen
Interpretationen von Beethovens „Erzherzog-Trio“ und
Schumanns Klaviertrio g-Moll op. 110.
Am meisten Aufsehen erregte jedoch ein Konzert, das insofern in
bester Toblacher Tradition stand, als man sich hier schon lange
auch abseits der ausgetretenen Pfade des klassischen Mainstreams
bewegt hat. 1998 stellte der Jazzmusiker Uri Caine in Toblach seine
provokativen Mahler-Bearbeitungen zur Diskussion, und heuer war
das amerikanische Kronos Quartet zu Gast und präsentierte als
Uraufführung sein „Mahler Project“, ein nach typischer
Kronos-Manier bunt gemischtes Programm von Kompositionen der verschiedensten
Stilrichtungen – ganz im Sinne Mahlers, in dessen Musik auch
das Volkstümliche, ja Banale in gefilterter Form seinen Platz
erhält. Von Alfred Schnittkes Drittem Streichquartett spannte
sich der Bogen bis zu einem ambient-artigen Stück der Aserbaidschanerin
Frangis Ali-Zadeh – und als Zugabe gab es Jimi Hendrix.
minimal music
Die Idee zu diesem Projekt entstand durch den Kontakt mit Hubert
Stuppner, dessen „Mahler-Bilder“ das Herzstück
des Abends bildeten. Stuppner bezeichnet seine sechssätzigen
„Mahler-Bilder“ als „Paraphrasen“ über
Mahler’sche Themen, zu Ehren der Interpreten durchsetzt mit
Elementen der „minimal music“ – für die sich
Kronos ja schon immer stark gemacht hat. Es erklang ein temperamentvolles,
geerdetes Werk, das durchaus Chancen hätte, sich im Kronos-Repertoire
zu behaupten.
Im Mittelpunkt des „Mahler-Protokolls“ stand Gilbert
Kaplans Vortrag „The Inner World of Gustav Mahler“.
Der amerikanische Geschäftsmann hat sich seit Jahrzehnten um
die Mahler-Pflege verdient gemacht; unterstützt zahllose Forschungsprojekte
und arbeitet mit der von ihm gegründeten „Gilbert Kaplan
Foundation“ an einer neuen Kritischen Ausgabe der Zweiten
Sinfonie, die voraussichtlich im Herbst erscheinen wird. Nicht zuletzt
ist Kaplan auch Hobby-Dirigent. Er dirigiert zwar nur ein einziges
Werk – Mahlers „Auferstehungssinfonie“ –,
dies aber auf der ganzen Welt. Seine erste Aufnahme der Sinfonie
mit dem London Symphony Orchestra avancierte zur bestverkauften
Mahler-CD überhaupt, und auch die Kritische Neuausgabe des
Werks hat er bereits, mit den Wiener Philharmonikern, eingespielt.
Kaplans Grundaussage: „Mahler eröffnet uns in seiner
Musik auch unsere eigene innere Welt.“
Und letztlich der Schallplattenpreis: So schnell war man sich noch
nie einig, so die Jury. In der Kategorie „Historische Aufnahmen“
reüssierte die „Bruno Walter Jacket Collection“
mit in Amerika entstandenen Mahler-Aufnahmen des Dirigenten. Den
Sonderpreis erhielt Riccardo Chaillys Gesamtaufnahme der Sinfonien
mit dem Concertgebouw-Orchester. Damit wur-de ein Mahler-Zyklus
geehrt, der sich auf konsequent hohem Niveau befindet – und
dies künstlerisch sowie klanglich. Hätte Chaillys Mahler-Zyklus
nicht den Sonderpreis erhalten, so die Jury, dann wäre seine
Aufnahme der Neunten Sinfonie zur besten Neueinspielung gekürt
worden. So ging die Palme an Claudio Abbados Interpretation der
Sechsten mit den Berliner Philharmonikern.
Thomas Schulz
Gustav Mahler
Informationen zu den Gustav Mahler Musikwochen in Toblach gibt
es im Internet unter www.gustav-mahler.it
Internationaler Schallplattenpreis „Toblacher
Komponierhäuschen“ – die preisgekrönten
Aufnahmen:
Bruno Walter Jacket Collection. Sony BMG SX13K
92460, 13 CDs
Gustav Mahler: Sämtliche Sinfonien. Riccardo
Chailly, Royal Concergebouw Orchestra, Radio-Symphonieorchester
Berlin. Decca 475 6686, 12 CDs
Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 6. Claudio Abbado,
Berliner Philharmoniker. Deutsche Grammophon 477 5573 (CD), 477
5684 (2 DVDs)
Gustav Mahler in Toblach. In wissenschaftlicher
Zusammenarbeit mit der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft,
herausgegeben von Erich Wolfgang Partsch und Josef Lanz. Mit Beiträgen
von Nina Schröder, Erich Wolfgang Partsch und Josef Lanz,
Buchverlag Athesia, Brixen 2005, 104 S., 15,- € ISBN 88-901956-0-6