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nmz-archiv
nmz 2005/09 | Seite 7
54. Jahrgang | September
Magazin -
Warschauer Herbst
Eklektizismus im guten Sinne
Das 48. Internationale Festival für Neue Musik „Warschauer
Herbst“ (10. bis 24. September 2005)
Warschau bereitet sich schon zum 48. Mal auf ein Fest der zeitgenössischen
Musik vor. Das Festival „Warschauer Herbst” ist eine
der bekanntesten derartigen Veranstaltungen in Europa und wohl die
renommierteste und wichtigste im Bereich der ehemaligen Ostblockstaaten.
Es wurde 1956, nach der Milderung der stalinistischen Diktatur,
als die einzige offizielle, vom Staat großzügig finanzierte
Möglichkeit zur Präsentation der Neuen Musik gestartet.
„Paradoxerweise fällt die Glanzzeit des ,Warschauer Herbstes’
in die kommunistische Zeit. Das Festival schlug nämlich eine
Bresche in den Eisernen Vorhang und war eine Insel der Schaffensfreiheit.
Hier herrschte der sozialistische Realismus nicht, hier waren alle
künstlerischen Extravaganzen möglich”, erinnert
sich der Festivalleiter Tadeusz Wielecki.
Vereint
offensichtlich Alt und Jung: der Warschauer Herbst. Foto:
WH
Auch heute, trotz schwierigerer finanzieller Lage, legt das Musikfestival
erstaunliche Vitalität an den Tag. Seine Bedeutung für
das Kulturleben Polens ist nicht zu unterschätzen. Neben der
Klassik des 20. Jahrhunderts (vor allem der zweiten Hälfte)
und den Strömungen, die mit der Musik der Vergangenheit und
der Tradition verbunden sind, werden dem Publikum die neuesten Tendenzen
präsentiert. „Wir wollen möglichst umfassend über
das aktuelle Musikgeschehen der Welt informieren”, betont
Wielecki.
Das wird auch getan. In diesem Jahr findet man im Programm neben
europäischen und amerikanischen besonders viele Werke koreanischer,
japanischer, chinesischer, russischer oder ukrainischer Komponistinnen
und Komponisten. Wie Wielecki erklärt, sei die Musik des Fernen
und Nahen Ostens in den vorigen Jahren in Polen nur selten aufgeführt
worden – ein Rückstand der nun aufgeholt werden soll.
Eine umfassende Präsentation der zeitgenössischen Musik
Asiens kann man als einen Schwerpunkt der diesjährigen Ausgabe
des Warschauer Herbstes betrachten.
Die Idee des Festivals ist es natürlich auch, dem Publikum
ein Bild der polnischen Musik zu vermitteln. Neben den längst
anerkannten Persönlichkeiten, wie etwa Górecki oder
Kotoñski, ist auch die junge Komponistengeneration (Bortnowski,
Zych, Jaskot) ins Programm aufgenommen. Der „Warschauer Herbst“
trägt auch zur Belebung des Musikschaffens in Polen bei, indem
neue Werke in Auftrag gegeben werden. Eines der Grundziele der Veranstalter
ist auch das Heranführen des polnischen Hörers an die
Klassik des 20. Jahrhunderts, insbesondere an das Repertoire aus
der Zeit nach 1950. So werden etwa „Vocalism AI“ von
Toru Takemitsu, „Notations“ und „Répons“
von Boulez oder „An Idyll for the Missbegotten“ von
George Crumb zum ersten Mal in Polen zur Aufführung gelangen.
„Das diesjährige Festival unterscheidet sich von den
vergangenen durch große, spektakuläre Veranstaltungen”,
freut sich Wielecki. Zu denen gehört in erster Linie ein Gastspiel
des Ensemble Modern, das vom Büro Kopernikus in Kooperation
mit dem Deutschen Musikrat ermöglicht wurde. Im Rahmen der
sich schon seit 2001 entwickelnden Zusammenarbeit des Festivals
mit dem Deutschen Musikrat wird jährlich ein deutsches Ensemble
für zeitgenössische Musik nach Warschau eingeladen. Diesmal
wird Heiner Goebbels erfolgreiche Oper „Landschaft mit entfernten
Verwandten“ als polnische Erstaufführung vorgestellt
werden. Ein anderes vom DMR unterstütztes Projekt ist die polnisch-deutsche
Ensemblewerkstatt für Neue Musik. Rund 25 junge Musiker werden
unter der Leitung von Rüdiger Bohn Werke deutscher, polnischer,
ukrainischer und japanischer Komponistinnen und Komponisten aufführen.
Traditionell schon ist das Festival auf keinen eigenen Ort festgelegt,
sondern geht „unters Volk“. Zeitgenössische Musik,
das versucht Wielecki zu vermitteln, sucht keine Enklaven, sondern
taucht ins Leben mit seinen die Gesellschaftsebenen spiegelnden
Treffpunkten. Außer in der Nationalphilharmonie oder der Saint
Trinity Lutherkirche finden die Konzerte in Szene-Lokalitäten
wie „Fabryka Trzciny Arts Centre“ oder im Ziegelbau
der „Koneser Vodka Distillers“ statt.
Sogar das Sport- und Rekreationszentrum oder das in der Warschauer
Clubbing-Szene berühmte Energetische Institut sind Veranstaltungsorte.
Kein Wunder, dass seit einigen Jahren neue Gruppen von Zuhörern
den „Warschauer Herbst“ besuchen. „Die Säle
sind voll, manchmal gedrängt voll. Und was wichtig ist, die
Mehrheit des Publikums bildet die Jugend“, betont Wielecki.
Nach Jahren entstehe wieder ein Interesse für eine raffiniertere,
kompliziertere Musik. Es bilde sich eine Elite von jungen Menschen
heraus, die sich gerade von den Konsumenten der Massenkultur absetzen
wollen. Sie suchen nach der Musik, die den Zuhörer gleichsam
adeln könnte. Das Festival spricht seit einigen Jahren verstärkt
unterschiedliche Publikumsschichten an, die eigentlich miteinander
wenig zu tun haben.
Vielleicht sagt man auch deswegen über den „Warschauer
Herbst“, er sei positiv eklektisch. Wird das bevorstehende
Festival diese Tendenz bestätigen? Mal sehen.