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nmz-archiv
nmz 2005/09 | Seite 41
54. Jahrgang | September
Bücher
Sechsundvierzig ausgewertete Kartons
Oliver Hilmes hat die bisher umfassendste Biografie über
Alma Mahler-Werfel vorgelegt
Oliver Hilmes: Witwe im Wahn. Das Leben der Alma Mahler-Werfel,
Siedler Verlag, München 2004, 478 S., Abb., € 24,00,
ISBN 3-88680-797-5
Wie konnte das passieren? Da lagern in der Van-Pelt-Library von
Philadelphia, verteilt auf 46 Kartons, rund 5.000 Dokumente, von
denen zwar die Spezialisten wussten, um deren Auswertung sich aber
bis dato niemand gekümmert hatte. Es handelt sich ausnahmslos
um an Alma Mahler-Werfel gerichtete Briefe, unzählige Postkarten
und Manuskript-Fetzen.
Zwar hatten die Bibliotheksangestellten sich einige Zeit zuvor bereits
daran gemacht, diese Quellen zu katalogisieren, doch mehr als eine
rudimentäre Such-und-Find-Liste ist dabei nicht herausgekommen,
bis im Sommer 2000 ein studierter Historiker, Politologe und Psychologe
vom linken Niederrhein vorstellig wurde. Oliver Hilmes besaß
von dieser Sammlung Kenntnis und wollte sie für seine Arbeit
an einer Mahler-Werfel-Biographie nutzen.
Deshalb wandte er sich vertrauensvoll an Mrs. Shawcross, die zuständige
Kustodin, die ihn eindringlich vor diesem Chaos warnte. Doch Hilmes
ließ sich nicht entmutigen, er stieg ein und stieß vor,
er vergrub sich und trat am Ende mit einem Buch an die Öffentlichkeit,
das nicht nur „sorgfältig“ recherchiert sowie „frei
von Beschönigungen“ und „Besserwisserei“
(FR) gehalten sei, sondern darüber hinaus mit jedem „Epochenkitsch“
(NZZ) aufräume und als die „ausführlichste“
und „sicherlich definitive“ (SZ) Mahler-Werfel-Biographie
gelten dürfe. Nicht nur in Philadelphia, auch in anderen Bibliotheken
war Hilmes als Dokumenten-Fahnder erfolgreich, wenn auch nicht so
spektakulär.
„Alma schrieb sich bereits als Backfisch von der Seele, was
sie erlebt, gedacht, gesagt, gehört, gefühlt, geträumt,
gewünscht hatte. Sie führte jahrzehntelang nicht regelmäßig
und nicht in chronologischer Abfolge ein bloß berichtendes
Tagebuch, sondern notierte auf losen Blättern, was um sie herum,
was mit ihr und vor allem in ihr geschah. Es handelte sich im Wortsinne
um ihr ,journal intime‘.“ Allerdings klaffte bisher
eine große Lücke, die sich mit dem 16. Januar 1902 öffnete,
kurz vor Almas Heirat mit Gustav Mahler. Unter diesem Datum enden
nämlich ihre 1997 erstmals in Buchform der Öffentlichkeit
zugänglich gemachten Tagebuch-Skizzen. Wenn man sich vorstellt,
dass allein der Zeitraum zwischen 1898 und 1902 knapp 800 eng bedruckte
Seiten füllt, lässt sich leicht ausmalen, wie viel sie
in den Folgejahren zusammengeschrieben hat. Jedoch sind ihre übrigen
Tagebücher verschollen, zumindest im Original. Denn Oliver
Hilmes stützt seine Biographie unter anderem auf Almas eigenhändige,
aus dem Jahr 1924 stammende Abschriften ihrer Tagebücher von
1902 bis 1905 und 1911. In zwei Typoskripten, die zusammen mehr
als 1.000 Seiten umfassen, finden sich weitere Notizen aus der Zeit
zwischen 1902 und 1944. Hilmes hat dieses Quellenpuzzle für
uns lesefreundlich aufbereitet. Dabei lässt er sich weder von
feministischen noch von sonstigen Ideologien irremachen, sondern
hält sich mit aller notwendigen Akribie an die Fakten.
Dass dieses Buch für gleich mehrere Interessensgruppen neue
Betrachtungen, Ergänzungen und aufgedeckte Widersprüche
parat hält, kann nicht verwundern; die Germanisten hatten auf
Alma wegen ihrer Beziehung zu Franz Werfel ein Augenmerk geworfen,
für die Vertreter der Bildenden Künste war sie wegen ihrer
Nähe zu Gropius und Kokoschka prominente Kronzeugin, und die
Historiker dürfen nun ihre Person präziser einordnen,
da Hilmes all ihre antisemitischen Äußerungen zusammengetragen
hat. Und die Musikwissenschaft?
Hier liefert das neue Buch vornehmlich vertiefende Belege, etwa
wenn es Indizien für den Prozess einer sich zerrüttenden
Ehe benennt. So war Alma eifersüchtig, wenn Gustav gemeinsam
mit zwei Sopranistinnen das Glas erhob.
Sie trauert noch 1903 wiederholt ihrer eigenen – um Gustavs
Willen aufgegebenen – Komponistentätigkeit nach: „Ich
habe meine Sachen wieder gespielt, ich fühle immer –
DAS, DAS, DAS! […] Ich liebe MEINE Kunst! Alles, was ich heute
spielte – so vertraut! So tief vertraut.“ Im Jahre 1920
stoßen wir auf einen Eintrag, der sich auf die Zeit im Frühjahr
1911, also kurz vor Mahlers Tod am 18. Mai, bezieht. Wie ein Geständnis
schockiert die Aussage: „Gustavs Tod auch – habe ich
gewollt. Ich liebte einst einen Andern und er war die Mauer, über
die ich nicht steigen konnte.“
Ebenso erschütternd sind ihre Aufzeichnungen vor dem Hintergrund
ihrer Mutterrolle. Gleichfalls 1920 erinnert sie sich an jene Vorkommnisse
dreizehn Jahre zuvor, als im Sommer 1907, ihre Tochter Maria an
Diphtherie erkrankt war und sie – mit Gustav – noch
einmal die todkranke Tochter durch die Fensterscheibe sehen kann:
„Gustav winkte verliebt hinauf. War er das? Ich weiß
es nicht, aber plötzlich wusste ich: Dieses Kind muss weg.
Und sofort. Um Gotteswillen! Weg den Gedanken! Weg das verfluchte
Denken. Aber das Kind war tot nach ein paar Monaten.“
Hilmes hält sich aber nicht nur an Fakten und Zitate, sondern
versucht auch das psychologische Moment dahinter zu erklären.
„Sehnte etwa Alma den Tod ihrer eigenen Tochter herbei? War
Alma eifersüchtig auf Maria, schlimmer noch, sollte das Mädchen
sterben, weil es der ganze Stolz des Vaters war? Obwohl man vor
der Konsequenz dieses Gedankens zurückschreckt, ist auffällig,
dass Alma bei der späteren Überarbeitung ihres Tagebuchs
über den Halbsatz aber ,plötzlich wusste ich:‘ das
kleine Wörtchen ,wünschte‘ schrieb.“
In „Witwe im Wahn” zeichnet Oliver Hilmes ein überaus
konkretes, detailnahes, aber nie – wie in zahlreichen anderen
Biografien – ein durch persönliche Nähe gefährdetes
Porträt. Er entlarvt und wertet, er flickt zusammen und schiebt
auseinander, er regt im Einzelnen gewiss zum Widerspruch an und
liefert doch ein äußerst glaubwürdiges Bild von
einer Person, die selbst zum personifizierten Widerspruch geworden
ist.