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nmz-archiv
nmz 2005/09 | Seite 37
54. Jahrgang | September
Rezensionen
Die andere Moderne
Das Projekt MoMu bei Universal
Beim Konzert oder auf der Opernbühne, als Film oder Video
haben manche Werke der klassischen Moderne durchaus spektakuläre
Resonanz gehabt. Nur im Audioformat, also via Langspielplatte oder
Compact Disc ohne visuelle Unterstützung fürs Ohr, sind
für die Musik des 20. Jahrhunderts nur wenige Bestseller wie
etwa der Bolero von Maurice Ravel zu verzeichnen. Die Hörgewohnheiten
werden immer noch vom angeblich angenehmen klassischen Standardrepertoire
und vom Glamour einiger Stars dominiert. Auf die Stilrichtungen
kommt es an, um das Publikum für Moderne Musik zu interessieren,
meinen Per Hauber (Product Management) und Martin Torp (Texte und
Kompilation). Sie haben aus den Katalogen hauseigener Labels fünfzig
Aufnahmen mit primär hörerfreundlicher Musik der Moderne
– MoMu – ausgewählt und Hans-Dieter Grünefeld
die Funktion dieser Reihe erläutert.
nmz: In Ihrem Kommentar zum MoMu-Sampler ist zu
lesen, dass auch die Klassische Moderne mehrheitsfähig sein
kann. Was bedeutet das?
Per
Hauber (li.) und Martin Torp mit der MoMu-Edition. Foto:
Universal
Martin Torp: In Deutschland wird die Musik des
20. Jahrhunderts vielfach noch immer verzerrt wahrgenommen. Nach
dem Zweiten Weltkrieg etablierten sich, als legitime Reaktion auf
die Verfolgungen „Entarteter Musik“, das Zwölftonsystem
von Arnold Schönberg sowie Kompositionsmethoden seiner Nachfolger
und Apologeten. Verdrängt wurden aber jene Komponisten, welche
die Tradition weiter- entwickelten. So verengte sich das öffentlich
wahrgenommene Spektrum der Moderne. Die als maßgeblich propagierten
Werke erschienen vielen Klassikinteressierten aber als zu kopflastig
oder gar wie Geheimsprachen, die nur Eingeweihte entziffern können.
Verkürzt und provokativ gesagt ist die Neue Musik nach 1950
in Deutschland in eine Sackgasse geraten. Wir versuchen, diese Schieflage
auszugleichen, indem wir Repertoire vorstellen, das noch relativ
unbekannt ist, aber das Potential hat, die leider immer noch weit
verbreiteten Vorurteile des Publikums gegenüber der musikalischen
Moderne abzubauen. Wir halten die Werke der MoMu-Auswahl nicht zuletzt
aufgrund ihrer ansprechenden Sinnlichkeit, Allgemeinverständlichkeit
und ihrer hohen künstlerischen Qualität für potentiell
mehrheitsfähig.
nmz: Welche Komponisten waren für Sie relevant?
Martin Torp: Im Prinzip alle, die in ihren Werken
Harmonie, Melodie und Rhythmus als wesentliche Elemente nicht verleugnen
und dennoch zeitgemäß und anspruchsvoll sind. Dabei galt
zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Komponisten besondere Aufmerksamkeit.
Das Spektrum der MoMu-Auswahl ist äußerst breit und vielfältig.
Berücksichtigt wurde beispielsweise Musik der noch stark spätromantisch
geprägten Frühmoderne wie die Psalmvertonungen von Lili
Boulanger oder die Werke Rudi Stephans. Mit Pavel Haas, Viktor Ullmann
oder Eduard Erdmann sind freitonale Komponisten vertreten. Andere
wie Heino Eller repräsentieren den so genannten Neoklassizismus.
Dann fanden auch stilpluralistische Werke wie Hans Werner Henzes
Ballett „Undine“ Berücksichtigung, ferner der Minimalismus
eines Steve Reich oder Hans Otte. Und schließlich wurden mit
Collin McPhee und anderen auch Pioniere einer „Neuen Weltmusik“
in die MoMu-Auswahl aufgenommen
nmz: Das Klangprofil vieler Werke beschreiben
Sie als „farbenprächtig“. Warum ist das eine positive
Eigenschaft, und wie hat sie Einfluss auf das Hörbewusstsein?
Martin Torp: Attribute wie „farbenprächtig“
beziehen sich primär auf die Harmonik der ausgewählten
Werke. Synästhesie ist ja ein bekanntes Phänomen, da gibt
es auch viele Analogien zur Bildenden Kunst, insbesondere zur MoMA-Ausstellung
in Berlin. Außerdem deuten diese Attribute auf sinnliche und
emotionale Qualitäten hin. Zwölftonmusik wird zumeist
mit Grau assoziiert, weil sich die Klänge darin durch gleichmäßige
Verteilung in ihren Farbwerten nivellieren. Tonale oder erweitert
tonale Harmonik wirkt dagegen farbiger und erreicht meist auch größere
Vielfalt und Tiefe hinsichtlich des seelischen Erlebens
nmz: Inwieweit ist die MoMu-Reihe repräsentativ
oder typisch?
Per Hauber: Wir erheben keinen Anspruch auf einen
Werkkanon. Für uns war wichtig, verdrängte Musik zu entdecken.
Wir haben bei Universal nicht nur Anna Netrebko oder Luciano Pavarotti,
sondern auch andere Kapazitäten in den Katalogen aus der 100-jährigen
Geschichte der Deutschen Grammophon und anderer Labels wie Decca,
Argo, Point, Accord und Koch, den wir vor zwei Jahren übernommen
haben. Für uns war das Repertoire entscheidend, nämlich
dass die Musik hörerfreundlich und unbekannt sein sollte. Nach
der Sichtung der Kataloge haben wir eine Liste mit 300 CDs gemacht,
die für das MoMu-Projekt interessant sein könnten. Dazu
haben wir in Archiven recherchiert; manche CDs mussten nachproduziert
werden.
In einer ersten Tranche kommen 50 CDs auf den Markt, die einzeln
verkauft werden und in einem Katalog zum Sampler auf 64 Seiten ausführlich
dargestellt sind. Weitere Veröffentlichungen sind geplant.
Der Sampler soll für Händler und Kunden mit etwa 40 Werkausschnitten
auf 2 CDs zum Preis von 10 Euro eine erste Orientierung sein.
Hans-Dieter Grünefeld
MoMu. Meisterwerke des 20. Jahrhunderts
Ausgewählte Aufnahmen hörerfreundlicher Musik der Moderne
Universal Classics 476 742 3 (2 CDs)