[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2005/09 | Seite 12
54. Jahrgang | September
Semmelmann
Oléé Oléolé Olééééééé
Sie kommt unaufhaltsam. Niemand kann sich gegen sie wehren. Nicht
mal mehr ein Jahr wird es dauern, bis Horden kahlgeschorener, strunzbesoffener
Engländer über den Kontinent herfallen werden, eine mächtige
Spur leergesoffener Dörfer und Städte hinter sich lassend
um in unserem „Deutschland, einig Vaterland“ einzufallen.
Von Süden her nähern sich die phonstarken Dauer- und „Alle
auf einmal“-Quassler aus den Metropolen der Lombardei. Und
aus dem Osten die mongolische Nachhut der zahlreichen, bleichgesichtigen
U-Bahn-Bänkelsänger, die uns mit ihren schaurigen Liedern
immer wieder vor Augen führen, wie nichtig und klein doch unsere
Existenz ist.
O ja, sie steht quasi vor der Tür, die Fußball-WM.
Im eigenen Lande. Mancher nmz-Leser wird jetzt wohl denken: „Hoppla,
da hab’ ich wohl heute Morgen ganz aus Versehen den falschen
Briefkasten geleert und den Scheiß-Kicker von dem unkultivierten
Arsch aus’m Parterre mitgenommen!“ Nein, nein. Es ist
alles in Ordnung. Es ist die nmz und in meiner kleinen Glosse geht
es tatsächlich um die Fußball-WM. Doch keine Angst, ich
werde hier nicht die Mannschaften und ihre Lieblingslieder vorstellen
(Die Qualifikationen sind noch nicht ausgespielt, sonst hätte
ich mir das echt überlegt), noch werde ich einen herrlichen
Rückblick über vergangene WMs geben. Auch eine ausführliche
Schilderung des Siegtores 1954, erzielt durch Helmut Rahn, liegt
mir äußerst fern. Kann wahrscheinlich eh niemand mehr
hören, geschweige denn sehen. Zumindest mir geht es so.
„Herr Semmelmann, kommen Sie endlich zur Sache. Was hat
eine kultivierte Musikzeitung mit dem Unterschichten-Sport Fußball
zu tun? Sie stehlen mir meine kostbare Zeit.“ So ruft eine
erboste Muse in einer kurzen Denkpause. Gemach. Der Grund ist ganz
einfach: Ich mache mir Sorgen. Echte Sorgen. Worum? Um den offiziellen
WM-Song. Den wir offensichtlich immer noch nicht haben.
Unser Land befindet sich in einer sehr schwierigen Situation.
Seit Monaten – ach was sag’ ich – seit Jahren
schleppen wir die rote Laterne kreuz und quer durch Europa und keiner
will uns das Scheißding abnehmen. Im September wird aller
Voraussicht nach unsere konservative Regierung ein neues schwarzes
Team erhalten. Gelbe Tupfer und ihre Schmierfinken will ich mir
erst gar nicht vorstellen. Was für einen WM-Song präsentiert
ein Land, das politisch und wirtschaftlich am Boden liegt? Ein bisschen
was mit Schmackes, das auch das Selbstwertgefühl etwas aufmöbelt?
Wie damals der Abräumer von Udo Jürgens: „Wir sind
schon übern Brenner und morgen die ganze Welt.“ Oder
so ähnlich. Wählen wir etwas aus der klassischen Ecke,
um die Welt daran zu erinnern, dass wir ganz in echt mal das Volk
der Dichter und Denker waren? Klauen wir gar ein paar Zeilen beim
ollen Schiller? Oder beim Heini Heine? Nee, Heine geht nicht. Da
macht die Frau Bundeskanzlerin nicht mit. Nicht etwa, weil ihr der
Heine zu spitz ist, sondern weil sie ihn nicht kennt. Nehmen wir
was Rockiges, wie weiland die Lightning Seeds mit dem besten Fußballsong
aller Zeiten, dem legendären „Football’s comin’
home“? Finger weg, sag’ ich. So was können wir
Deutsche nicht. Wie wäre es mit den Söhnen Mannheims?
So ‘ne schöne R&B-Ballade über unser schönes,
fremdenfreundliches Land? Xaver Naidoo singt, dazwischen kesse Mannemmer
Rhymes aus den ehemals roten Arbeitervierteln? Dazu schönes
Video: blonde und blauäugige Mädels mit BDM-Frisur, großen
Glocken und Schlenkerhintern, große Autos, bissle Fußball.
Das würde etwa den Engländern und Holländern sehr
gut gefallen.
Jetzt fällt mir aber gerade ein, dass der André Heller
das mediale Programm der WM ausficht. Und der Heller, das wissen
wir alle, liebt und wagt das Experiment. Also. WM-Song. Ganz einfach.
Wir lassen einfach die Sarah Connor noch mal die Hymne singen.