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nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 5
54. Jahrgang | Oktober
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Brüchig
Es ist nicht ganz selbstverständlich, dass Helmut Lachenmann
zu seinem Siebzigsten in diesem Jahr so ausgiebig gefeiert wird.
Bei den europäischen Festivals wird er von einem Ort zum andern
weitergereicht, und es sieht fast ein wenig so aus, als ob die Veranstalter,
die ihm, von wenigen Ausnahmen abgesehen, früher mit wohlwollender
Skepsis oder sogar ablehnend gegenüberstanden, nun das Fell
des Bären unter sich aufteilen möchten.
Im Lachenmann-Boom dieses Jahres zeigt eine Verschiebung in der
Rezeption dieses Komponisten, dessen Oeuvre als Inbegriff des Schwierigen
und Verstörenden gilt und in der Vergangenheit oft genug Gegenstand
aggressiver Ablehnung war. Dass ihn der Musikbetrieb heute so dienstbeflissen
an die Brust drückt, liegt vermutlich weniger im subtilen Wandel
seiner Schreibweise als vielmehr in einer Veränderung der allgemeinen
Voraussetzungen der Rezeption, das heißt: im Zeitgeist.
Darin zeigt sich das klassische Avantgarde-Dilemma, das sein historisches
Modell im frühen 20. Jahrhundert bei Schönberg hat: Das
Neue kann sich nur im abgeschirmten Raum entfalten, beschützt
und gefördert von einer verschworenen Gemeinschaft, die jahrelang
dafür kämpft, es gegen eine ignorante Öffentlichkeit
durchzusetzen.
Doch wenn in diesem Prozess einmal ein gewisser Punkt erreicht
wird, droht den Vorkämpfern die Kontrolle über ihren Gegenstand
zu entgleiten. Je häufiger die ersehnte Anerkennung eintritt,
desto mehr setzt sich das Werk auch den Deutungen Außenstehender
aus. Die kenntnisreichen Insider verlieren schrittweise die Diskurshoheit.
Der Streit um das „richtige Verständnis“ hebt an.
Das war bei Schönberg spätestens dann der Fall, als Karajan
seine Orchestervariationen dirigierte, das war auch bei Nono nach
seinem Tod der Fall, als etwa Robert Wilson in Brüssel den
„Prometeo“ inszenierte und alle möglichen Interpreten
begannen, sich auf sehr pragmatische, ja profane Weise seiner Werke
mit Live-Elektronik zu bemächtigen.
Bei Helmut Lachenmann setzt dieser Prozess schon zu Lebzeiten
ein. Das bei den berufenen Nono-Adepten viel gehörte Argument
„Der Tschitschi hat aber gesagt“ ist in diesem Fall
überflüssig, da man ja den Helmut selbst befragen kann
und er überdies seine Poetik sehr genau in seinen Schriften
festgehalten hat. Gravierende Mehrdeutigkeiten der Notation wie
bei Nono gibt es bei ihm ohnehin nicht. Ein zentraler Punkt kommender
Auseinandersetzungen um Lachenmanns Musik wird aber eine inhaltliche
Frage betreffen, genauer: die gesellschaftlich-politische Bewertung
seiner Musik. Da scheiden sich jetzt schon die Geister.
Helmut Lachenmanns Musik ist in gewisser Hinsicht repräsentativ
für die alte Bundesrepublik. Seine kompositorischen Denkmodelle
bildeten sich im Wesentlichen vor dem Hintergrund der 68er-Bewegung
heraus. Auch wenn er deren kunstfeindliche Dummheiten nie mitmachte:
Die institutionskritischen Impulse, der Topos der „Brüchigkeit“
und sein auf Adorno fußendes, dialektisches Traditionsverständnis
sind Elemente einer negativen Ästhetik, die nur vor diesem
Hintergrund denkbar sind.
Damit identifizierten sich in der Folge jene Teile der kritischen
bundesdeutschen Intelligenz, deren Hörbedürfnisse über
den Konsum von Rockmusik hinausreichten.
Es gereicht dieser Schicht zur Ehre, dass sie die Qualitäten
von Lachenmanns Musik erkannte und gegen den Mainstream durchzusetzen
versuchte. Den Bemühungen haftet aber inzwischen ein seltsamer
Beigeschmack an. Mit fortschreitender Akademisierung der 68er-Bewegung
wurden Werk und Person Lachenmanns zu einer Projektionswand einer
verbeamteten Intelligenz, die in seinen Partituren ein Äquivalent
zu ihrem merkwürdigen Begriff von Revolution suchte. Das Gerede
von „Verweigerungsästhetik“ und „Widerstand“
(wogegen eigentlich? Gegen „den Kapitalismus“? Da lacht
Lachenmann.) ist inzwischen verstummt.
Als letzter Strohhalm bietet sich noch die Figur der Gudrun Ensslin
im „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ an. Was
beim Komponisten den Charakter einer allerpersönlichsten Auseinandersetzung
hat, soll zum Bausteinchen einer Robin-Hood-Legende vom missverstandenen
Terroristen umgedeutet werden: Romantische Revoluzzerträume
wohlbestallter Staatsdiener, die zum Zeichen ihrer fortschrittlichen
Gesinnung Fahrrad fahren und ihre Honorare aus dem Nebenverdienst
in Windkraft investieren.
Doch die 68er-Mentalität kommt inzwischen ins Pensionsalter,
ihre ökonomische Basis, die gute alte BRD, gibt es nicht mehr.
Die wichtigen geistigen Auseinandersetzungen spielen sich heute
nicht mehr auf dem gut abgezäunten Feld der deutschen Nachkriegsgeschichte
ab. Nur haben es viele noch nicht gemerkt.
Damit werden auch die alten Deutungsmuster, Lachenmanns Musik
betreffend, zunehmend brüchig. Er selbst hat die Veränderungen,
wie die hellhörigeren seiner Kollegen auch, schon vor über
einem Jahrzehnt gespürt und künstlerisch darauf reagiert.
Der Horizont seiner Fragestellungen hat sich erweitert, seine Antwortversuche
sind selbst wieder neue Fragen. Darauf sollte die Kritik reagieren.
Ansonsten landet sie im bundesdeutschen Geschichtsmuseum neben Kohl,
Brandt und Habermas.