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nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 41
54. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Neuland am Vierwaldstädter See
Helmut Lachenmanns „Concertini“ beim Lucerne Festival
Das Luzerner Traditionsfestival hat sich in den letzten fünf
Jahren zu einem bedeutenden Zentrum der neuen Musik entwickelt.
Festivaldirektor Michael Haefliger und sein Dramaturg Mark Sattler
zeigen einen Mut und eine Phantasie, die es an vergleichbaren Orten
zur Zeit nicht gibt, die aber auch durch eine respektable Liste
von Sponsoren und privaten Mäzenen abgesichert sind. Die Veranstaltungen
mit Zeitgenössischem sind eingebettet in die herkömmlichen
Konzerte mit internationalen Sinfonieorchestern und Solisten. Kristallisationskerne
sind dabei die von Pierre Boulez geleitete Festival Academy, die
nun schon in ihr zweites Jahr geht, und der Composer-in-Residence.
Der hieß diesmal Helmut Lachenmann, wie an so manch anderem
Ort auch – zu seinem 70. Geburtstag ist er bevorzugtes Objekt
der Veranstalterbegierde. In Luzern war er einen Monat lang auf
vielseitige Weise präsent, sozusagen ein Komponist zum Anfassen.
Er leitete zusammen mit Walter Levin einen Streichquartett-Workshop,
er unterrichtete an der Luzerner Musikhochschule, er stand in öffentlichen
Diskussionen Rede und Antwort. Doch vor allem war seine Musik zu
hören. Nicht weniger als acht Werke standen von ihm im Programm,
die von den Luzerner Studenten einstudierten kleineren Stücke
nicht mitgerechnet. Das Arditti Quartett interpretierte sein erstes
und drittes Streichquartett, wobei das dritte, „Grido“,
auch in einer Bearbeitung für 48 Streicher unter dem Titel
„Double“ erklang, gespielt vom Ensemble der Festival
Academy unter Matthias Hermann. Das Ensemble Intercontemporain spielte
das nunmehr über 20 Jahre alte Schlachtross „Mouvement
(- vor der Erstarrung)“; Dirigent war Heinz Holliger, dem
es schon seit Jahren gelingt, das Stück aus der Ecke der kritischen
Geräuschproduktion herauszuholen und die musikantischen Seiten
daran zu betonen. Ein Großprojekt mit dem Ensemble Modern
Orchestra, das auf eine Idee Lachenmanns zurückging, sollte
seinen „Ausklang“ für Klavier und Orchester mit
der „Alpensinfonie“ von Richard Strauss konfrontieren.
Doch das Konzert fiel dem Hochwasser zum Opfer, und die über
hundert Musiker mussten unverrichteter Dinge wieder abreisen.
Hauptereignis des Lachenmann-Schwerpunkts war die Uraufführung
des neuen Ensemblewerks „Concertini“ mit dem Ensemble
Modern unter dem Dirigenten Brad Lubman. Der Titel „Concertini“
erinnert an die ursprüngliche Bedeutung des Worts „Konzertieren“
im Sinne von Wettstreit in kleinen Gruppen. Das Stück ist mit
25 Spielern groß besetzt, die ausladenden Gruppensoli sind
mit dem Ensemblesatz dicht verwoben und erfordern viel kollektive
Virtuosität. Auf höchst erfinderische Weise werden die
Instrumente zu Zupfkonzert, Streicherconsort und zum Scherzo einer
Schabe- und Schrappaktion gebündelt, nicht weniger als vier
Oboen vereinigen sich zum durchdringenden Unisono, gegen Schluss
simulieren einige Bläser den Klang der japanischen Mundorgel
Shô.
Auffällig an Lachenmanns neuer Komposition ist der helle,
leichte, stellenweise geradezu heitere Grundton, der immer wieder
durchbricht. In den unerhört differenzierten Geräusch-Klang-Gemischen,
die Lachenmann inzwischen mit Meisterhand zu modellieren versteht,
hat sich das Mischverhältnis unmerklich in Richtung Klang verschoben.
Stellenweise werden sie wie von innen heraus zum Leuchten gebracht.
Die Frage der Schönheit, eine idée fixe bei Lachenmann,
steht dabei in neuer Form wieder zur Debatte. Das Etikett des Geräuschmusikers,
das dem Komponisten immer wieder angeklebt worden ist, gilt nach
diesem Stück noch weniger als zuvor.