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nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 40
54. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Das Neue findet sich auch im Historischen
Das Freiburger Barockorchester in Luzern mit fünf Uraufführungen
„Neuland” war das Motto des diesjährigen Lucerne
Festival. Ein neues Land der besonderen Art präsentierte dabei
das Freiburger Barockorchester in Kooperation mit dem Siemens Arts
Program: „About Baroque”, neueste Musik für historische
Instrumente. Fünf junge europäische Komponisten –
Juliane Klein und Benjamin Schweitzer (D), Rebecca Saunders (GB),
Michel van der Aa (NL) und Nadir Vassena (CH) – schrieben
exklusiv Werke für das renommierte Barockensemble.
Studie
über eine einzige braocke Geste: Michel van der Aa
bei einer Probe. Foto: Lucerne Festival
Mit gewohnter größter Genauigkeit und gehöriger
Spielfreude betreten die Barockspezialisten das ihnen fremde Terrain
und bieten dank professioneller Selbstverständlichkeit faszinierende
Ergebnisse. Das geht nur mit einem starken Förderer im Hintergrund:
Ohne das Siemens Arts Program und dessen zwei Projektleiter Jens
Cording und Katrin Beck, die Musiker wie Komponisten über einen
langen Zeitraum begleitet haben, wäre ein solches Projekt kaum
realisierbar gewesen. Denn man betrat hier Neuland in doppeltem
Sinn.
Das Freiburger Barockorchester musste nicht nur neue Stücke
erarbeiten, sondern auch die fremde Sprache des Partners auf Zeit
kennen lernen. Über zwei Jahre hatte man Zeit, sich aneinander
zu gewöhnen. Dazu kamen die Komponisten zu mehreren Barockprojekten
des Orchesters, um sich mit dessen einzigartiger Spiel- und Kommunikationskultur
vertraut zu machen, entwickelten anschließend das eigene Werk
und erarbeiteten es in vielen Leseproben und intensiven Studienzeiten
mit dem Orchester. Und was passiert, wenn fremde Welten aufeinanderprallen?
Erstaunliches. Überraschend selbstverständlich greifen
Alt und Neu ineinander, wenn Interpreten, um größte Offenheit
bemüht, auf Komponisten treffen, die sich betont behutsam,
vorsichtig forschend und lustvoll lauschend dem fremden Barockklang
nähern. Dabei waren die Vorgaben äußerst schlicht:
Die Werke sollten mit der tiefen Stimmung des Freiburger Barockorchesters
arbeiten (415 Hertz), und sie sollten, wie das in der historischen
Aufführungspraxis üblich ist, ohne Dirigent spielbar sein.
Darüber hinaus war alles möglich.
So wurden denn auch viele Facetten ausgelotet: Juliane Klein etwa
konzentrierte sich auf klangliche Metamorphosen in einem sehr flexibel
aufeinander reagierenden Ensemble, Benjamin Schweitzer dagegen beschwor
eher den Geist barocker Spielhaltung, indem er Leerstellen in seiner
Partitur ließ, die es – wie im 18. Jahrhundert –
von den Musikern zu füllen galt. Und auch wenn, wie Konzertmeister
Gottfried von der Goltz formuliert, das Ganze wie beim Kochen ist
(„wir sind in der barocken Musik gewohnt, nach Erfahrung und
Intuition zu kochen. Bei der Neuen Musik kocht man dagegen sehr
oft nach Rezept”), so funktionierte das Zusammenspiel zwischen
Intuition und Rezept doch ausnehmend gut. Nach anfänglichen
Berührungsängsten bauten sich Ressentiments ab und die
Ordnungsinstinkte der Musiker erwachten zuverlässig auch da,
wo es sehr viele Fäden über freie Felder zu spinnen galt.
Das ist vielleicht das interessanteste Ergebnis dieses außergewöhnlichen
Projekts: Natürlich war zu erwarten, dass hier nicht neobarocke
Klänge entstehen, ebenso natürlich war mit der Versuchung
der Komponisten zu rechnen, ihre Sprache dem fremden Ensemble überzustülpen
und eine Musik zu schaffen, die auch von einem modernen Orchester
hätte gespielt werden können. Und doch gab es jene Zwischentöne,
jene Momente des Wechselspiels von Anpassung und Aneignung, in denen
die Annäherung glückte. So etwa entdeckte Rebecca Saunders
die quasi natürliche Affinität ihrer eigenen Sprache zum
rauen, transparenten, obertonreichen Barockklang und entwickelte
so hoch komplexe wie ungemein farbige Klangbilder, die wie eine
Verlängerung und Vertiefung dessen wirkten, wonach sie auch
sonst auf der Suche ist. So hörte Nadir Vassena in leisen und
schier unendlichen Varianten den Einschwingvorgängen eines
Tones und dem Phänomen barocker Artikulation nach, und so wagte
es der am Minimalismus Andriessens geschulte Michel van der Aa,
eine Studie über eine einzige barocke Geste vorzulegen –
das am konsequentesten durchkomponierte Stück des Konzerts
und in seiner frechen Wiederbelebung des concerto-grosso-Gedankens
vielleicht auch das beeindruckendste.
Ein erstaunliches Projekt. Fünf junge europäische Komponisten
wagen den Diskurs mit der Alten Musik, konfrontieren sich selbst
mit der historischen Aufführungspraxis und finden ein opulent
ausgestattetes und geradezu ideales Laboratorium vor, in dem sich
lustvoll experimentierend Grenzen überschreiten lassen, in
dem die Interpreten – die ungewohnterweise einmal lebende
Komponisten vor sich haben, mit denen es sich auseinanderzusetzen
gilt – bis zuletzt darum bemüht sind, eben jene Auseinandersetzung
zu fordern, und in dem die Komponisten an der Verwirklichung ihrer
Klangvision so lange wie sonst kaum feilen können.
Auf die Uraufführung in Luzern folgten die nächsten
Stationen: Fränkischer Musiksommer, Berliner Festspiele, Konzerthaus
Dortmund und im November das Huddersfield Contemporary Music Festival.
Vielleicht kann ein solches Mammutprojekt einen Anstoß geben,
dass die Neue Musik neue Impulse findet, dass die Originalklangspezialisten
konfrontiert werden mit den Nöten und Freuden heutiger Komponisten,
dass jene Komponisten unverbrauchte Klangmöglichkeiten und
neue Spielhaltungen an die Hand bekommen.
Vielleicht schafft es das eine oder andere Stück, Eingang
zu finden ins „normale“ Barock-Konzert-Repertoire. Vielleicht
weichen langsam Grenzen zwischen dem Publikum Alter und Neuer Musik
auf. Und vielleicht sogar ist das Interesse von auch anderen Komponisten
und Orchestern geweckt, Ähnliches zu versuchen. Vielleicht
wird „About Baroque“ auch ein einmaliges Experiment
bleiben. Das aber ist letztlich nicht entscheidend. Viel entscheidender
ist es, ein so hörbares Vergnügen daran zu haben, eine
Vision zu verwirklichen.