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nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 37
54. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Antiker Held ohne räumliche und zeitliche Orientierung
Isabel Mundrys Musiktheater „Ein Atemzug – Die Odyssee“
an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt
Die Komponistin Isabel Mundry avanciert mit schöner Stetigkeit
zu einer der prägendsten Figuren der gegenwärtigen Neue-Musik-Szene.
Sie wurde 1963 im hessischen Schlüchtern geboren, wuchs in
Berlin auf, studierte unter anderem bei Hans Zender und ist seit
1996 selbst Professorin für Komposition und Tonsatz, erst in
Frankfurt am Main, jetzt in Zürich. Als Udo Zimmermann Intendant
der Deutschen Oper Berlin wurde, gab er Isabel Mundry den Auftrag
für ein Musiktheaterstück. So entstand „Ein Atemzug
- Die Odyssee“. Es wurde jetzt an der Deutschen Oper mit enormem
Erfolg uraufgeführt.
Isabel
Mundry bei einer Probe. Fotos: Charlotte Oswald
Zur Aufführung erschien ein Programmbuch, in dem die Komponistin,
die Regisseurin und Choreographin der Uraufführung, Reinhild
Hoffmann, der Dirigent Peter Rundel und die Dramaturgin Theresia
Birkenhauer über den Entstehungsprozess, die musiktheatralische
Konzeption und den intellektuellen Ansatz für die Auseinandersetzung
mit Homers Epos ausführlich berichten – der informative
Band demonstriert schon allein und für sich den Bewusstseinsstand,
mit dem heute ein aktuelles, ästhetisch relevantes Musiktheater
hergestellt werden muss, damit es Verbindlichkeit und Perspektiven
nach vorn gewinnt.
Eine Literaturoper, ein musikalisiertes Abenteuerstück ist
dabei selbstverständlich nicht entstanden. Isabel Mundrys Aneignung
des Stoffes beschreibt sie so: „Die ,Odyssee‘ lese ich
als eine vielschichtig angelegte Erzählung von der Suche nach
dem, was Heimat sein könnte: Sprachraum, Resonanzraum, Ort
der Erinnerung, des Vergessens. Die Suche spiegelt sich in verschiedenen
Figuren – Odysseus, Telemachos, Penelope – und sie ist
immer wieder davon gezeichnet, im handelnden Verstehen fremder Strukturen
eigene Formen der Orientierung zu entwickeln. Die Gegenpole dieser
Suche artikulieren sich in den Personen Odysseus/Penelope, bezogen
auf die Parameter Raum und Zeit. Odysseus sucht seine Heimat räumlich...
je weiter er sich räumlich und zeitlich von der Heimat entfernt,
desto mehr wird die Idee der Rückkehr präzisiert. Schließlich
erreicht Odysseus die „Heimat“ im Schlaf und erkennt
sie nicht mehr. Erinnertes Bild und Gegenwart sind auseinander gefallen.
Penelope hingegen entschwindet die Heimat gerade dort, wo sie räumlich
immer gewesen ist. Ihr Hof wird von den Freiern bevölkert (unser
Bild auf Seite 1), es wird von ihr gefordert, ihnen Haus und sich
selbst zu überlassen. Penelopes listenreiches Verhalten konzentriert
sich auf den Umgang mit der Zeit. Durch das nächtliche Auflösen
des tags zuvor gewebten Teppichs schickt sie die Zeit in eine Schleife
und relativiert somit das Tempo ihres Schicksals angesichts der
Erinnerungen. So stellt sie dem allgemeinen Verlauf der Zeit ihr
eigenes Maß entgegen – ihre ,Heimat‘ ist die Artikulation
einer eigenen Zeit, geformt aus Erinnern und Vergessen“.
Was sich kompliziert anhört, findet sich bereits im Original
Homers. Theresia Birkenhauer beschreibt eindringlich die wechselnden
Perspektiven und parallelen Montagen von Ort und Zeit am Beginn
des Epos. Isabel Mundry interessierten also nicht kontinuierliche
narrative Elemente oder „psychologische Empfindungen“,
sondern ausschließlich „Wahrnehmungsaspekte“.
Das betrifft ein höchst gegenwärtiges Phänomen:
Je mehr der moderne Mensch die Welt durch Forschung und Wissen zu
enträtseln versteht, desto mehr entzieht sich das „eigene
Sein“ der Aufklärung: Es ist einer ständig wachsenden
Entfremdung unterworfen: das Schicksal des Odysseus. Isabel Mundry
sieht aus der Vielfalt der Möglichkeiten die einfachsten Fragen
gleichsam unbeantwortet: „Was ist ein Ton, was sein Umfeld,
was hält die Dinge zusammen, lässt sie auseinanderfallen,
was ist Ferne, Nähe und so weiter? Indem ich komponierend die
,Odyssee‘ lese, lese ich auch mit der ,Odysse‘ das Komponieren“.
Die unauflösbare Wechselbeziehung zwischen Textvorlage und
Musik bestimmt die Struktur des ganzen Werkes. Die „räumliche
Wahrnehmung“ in der „Odyssee“ korrespondiert mit
der Räumlichkeit der Klänge. Das Orchester (der Deutschen
Oper) befindet sich in einer kleineren Formation im traditionellen
Orchestergraben, die anderen Musiker sind im Zuschauerraum platziert,
im zweiten Rang in den hervorspringenden Seitenlogen und im Rang:
die Lösung „nach oben“ ergibt einen für einen
Theaterraum dieser alten Art unerwartet perfekten Raumklang, in
dem „szenisches Denken“ (Mundry) und die Organisation
des Raumklangs im Sinne einer „Klangrede“ ideal verschmelzen.
Was an Isabel Mundrys „Odyssee“ fasziniert, ist eben
diese Beredtheit des Klanges, des Klingenden. Die Geschichte des
Odysseus und der Penelope wird von der Musik, vom und im Klang erzählt.
Die komponierten Zeichen und Gesten „erzählen“
alles, und auch die verarbeiteten Textelemente (von Unica Zürn,
Carolin Emcke und Giovanni Pascoli) sind vornehmlich ein Element
des Klanges, des Wortklanges. Mundry gibt dabei den Protagonisten
eine, wie sie es bezeichnet, „instrumentale Spur“. Odysseus
singt/spricht erst, als er in der „Heimat“ angekommen
ist, zuvor übernimmt eine Trompete (großartig Markus
Blaauw auf seinem Doppeltrichter-Instrument) für den „Helden“
die Klang-Sprache. Penelope wiederum erhält durch ein Akkordeon
(brillant Teodor Anzellotti) ihre Klang-Sprache. Penelope hat sich
in ihre eigene Webarbeit eingesponnen, hat sich gleichsam einkokoniert.
Salome Kammer, mit einem die Individualität auslöschenden
Seidenstrumpf über dem Gesicht, stößt einige langgehaltene,
herrliche Klagelaute aus: Musik als Erstarrung, Klänge nur
mehr Erinnerung.
Isabel Mundrys Musik ist in ihrem Erfindungsreichtum, ihrer dramaturgischen
Überlegtheit, auch in der charaktervollen klangsprachlichen
Eigenständigkeit so autonom, dass jeder Inszenator vor dem
Problem steht: Was kann ich in diesem klangredegewaltigen Raum eigentlich
noch inszenieren, für Bilder erfinden, die ebenso autonom funktionieren
und nicht einfach nur Vorgänge und Zustände illustrieren.
Aus der engen Zusammenarbeit mit der Regisseurin und Choreographin
Reinhild Hoffmann schon beim Entstehen des Werkes entstand eine
Aufführung, die nur selten illustrativ wirkte, vielmehr in
den Bildimaginationen, zu denen auch die Ideen des Ausstatter-Kollektivs
Bild Brigade beitrugen, starke optische Kontrapunktierungen und
Intensivierungen erbrachte.
Die starke Wirkung, die das Werk ausübte,war auch dem intensiven
Einsatz aller Beteiligten zu danken. Salome Kammer wurde schon erwähnt,
Thomas Laske besaß als Odysseus eine bannende physische Präsenz.
Der Countertenor Kai Wessel schlüpfte virtuos mit hohen „Klang“-Tönen
in verschiedene Figuren: Athene, Hermes, Kirke, Teiresias. Dass
Peter Rundel für fordernde Aufgaben wie diese der richtige
Dirigent ist, weiß man. Wie er den großen Apparat zusammenhielt
und die notwendigen Akzente setzte, verdient uneingeschränkte
Bewunderung. Weniger erfreulich war es, dass die Produktion in Berlin
nur fünfmal en suite gezeigt wurde und dann, wie man hört,
niemals wieder. Da hat die Deutsche Oper endlich eine aufregende,
zukunftsweisende Tat vollbracht, und dann versinkt alles wieder
in Kleinmut und Erbsenzählerei. Es bleibt zu hoffen, dass bald
eine andere Musikbühne sich an Isabel Mundrys „Odyssee“
wagt.