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nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 41
54. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
War Friedrich Schiller ein Komponist?
Spannende Erfahrungen bei einer Liederwerkstatt in Bad Reichenhall
Die Kurbäder rüsten kulturell mächtig auf. Das
Festspielhaus Baden-Baden konkurriert inzwischen mit den berühmtesten
Festspielen in der Alten Welt, auch wenn es meistens nur nachspielt,
was andernorts schon entstanden ist. Die Aura ist entscheidend,
und diese ist in Baden-Baden auf jeden Fall authentisch vorhanden.
Was der badischen Bäderstadt an der Oos recht ist, ist dem
bayerischen Bad Reichenhall auch recht. Kurzerhand gründete
man im vergangenen Jahr ein Festival, nannte es „Alpen-Klassik“,
was sich wie ein Milchprodukt anhört, doch Zitherklänge
und Jodler vernimmt man im stilvollen Alten Kurhaus keineswegs.
Im Gegenteil: Das Programm ist anspruchsvoll, dabei bunt gemischt.
Rudolf Buchbinder und Frank Peter Zimmermann, Ernst Stankovski und
Michael Heltau, Klaus Maria Brandauer und Peter Simonischek sind
einige bekannte Namen, die in Reichenhall erscheinen oder schon
erschienen sind.
Bad
Reichenhaller Gruppenbild (v.l.): unten sitzend die Pianisten
Axel Bauni und Jan Philip Schulze; oben stehend die Sänger
Peter Schöne, Mojca Erdmann und Ann-Carolyn Schlüter
sowie die Komponisten Wilhelm Killmayer, Jan Müller-Wieland
und Aribert Reimann. Foto: Charlotte Oswald
Doch die künstlerische Leiterin, Kari Kahl-Wolfsjäger,
denkt auch an die Zukunft, vor allem bei der Musik. Sie gründete
gleichsam als Festival im Festival eine Reichenhaller Liederwerkstatt,
und entwickelte für diese zugleich auch das dramaturgische
Konzept: Man nehme einen bekannten und auch großen Dichter,
forsche nach Komponisten, die dessen Texte schon vertont haben,
und – und dies ist das Entscheidende! – bitte einige
lebende Komponisten nach Reichenhall, damit sie hier vor Ort in
Klausur oder anregenden Kollegengesprächen in einer Woche Kompositionen
zum jeweiligen Thema erstellen mögen. Im vergangenen ersten
Werkstattjahr war Friedrich Hölderlin „dran“, und
es war äußerst spannend zu erfahren, wie Wolfgang Rihm,
Aribert Reimann, Manfred Trojahn, Wilhelm Killmayer, Jan Müller-Wieland
und Moritz Eggert sich auf dem Hintergrund eines reichen historischen
und auch aktuellen Repertoires von Hölderlin-Vertonungen mit
dem Dichter auseinandersetzten.
Im Schiller-Jubiläumsjahr hieß das Thema natürlich
Schiller. Dass Schiller ein besonders enges und differenziertes
Verhältnis zur Musik, auch und im besonderen zu deren Formgebungen
und Strukturen besaß, ist weitgehend bekannt, aber gleichwohl
keineswegs abschließend erforscht. So war es sinnvoll, an
den Anfang der Schiller-Liederwerkstatt einen Vortrag über
„Schiller und die Musik“ zu stellen. Kristina Maidt-Zinke
beschrieb anschaulich die „Bewegung, die Schiller mit seiner
Ästhetik vollzogen hatte, wie diese Bewegung ziemlich genau
der musikgeschichtlichen Entwicklung von der barocken Affektenlehre
über die abrupten Gefühlskontraste von Sturm und Drang
und Empfindsamkeit bis zur Klassik entsprach, in der Rationalität,
Formstrenge des Barock und befreite menschliche Leidenschaften auf
einer neuen Ebene zur Synthese fanden“.
Wie stark Schillers Gedichte, Balladen, Texte, auch Ausschnitte
aus den Dramen, die Komponisten seit Schillers Lebzeiten zu Vertonungen
inspiriert haben, davon vermittelten die zwei Programme der Liederwerkstatt
einen guten Eindruck. Immer wieder Schubert, dann aber auch Karl
Friedrich Zelter, Nikolaus von Krufft, Johann Rudolph Zumsteeg,
Johann Friedrich Reichardt, Robert Schumann, Felix Mendelssohn-Bartholdy,
Franz Liszt, Robert Kahn – so viele Namen so viele Handschriften.
Dagegen standen dann die vier eingeladenen Komponisten, die auch
schon bei Hölderlin dabei waren: Wilhelm Killmayer, Aribert
Reimann, Wolfgang Rihm und Jan Müller-Wieland. Aribert Reimann
vertonte „Amalia im Garten“, Erinnerung, Schmerz, Raserei
und Zusammenbruch einer liebenden Frau. Reimann „vertont“
nicht, sondern übersetzt Inhalt und Form des Textes in eine
zwingende musikalische Gestalt, die analog zum Gedichte einen autonomen
Ausdruck gewinnt. Eine hochexpressive Musik, die von der Sopranistin
Mojca Erdmann und dem Pianisten Axel Bauni bis zum finalen „Ach!“
furios umgesetzt wurde. Wolfgang Rihm, der nicht nach Reichenhall
kommen konnte, wählte „Zwei Sprüche“ des Confucius/Konfucius
als Vorlage: Reflexionen über Zeit und Raum. Rihm belässt
dem Text dessen klare Form und Formulierung, stützt Sprache
und Aussage mit eher diskreten Klang-Zeichen. Auch so kann man Schiller
„vertonen“. Der Bariton Peter Schöne, begleitet
von Jan Philip Schulze, fand dafür den ruhigen, gleichwohl
dringlichen Ton. Wilhelm Killmayer entschied sich für die Ballade
vom „Ritter Toggenburg“, deren erste Strophe von einem
Sopran, die folgenden vom Bariton vorgetragen werden. Killmayer
findet für die fast magische Atmosphäre des Gedichts von
einer L’amour de loin, einer hoffnungslosen Liebe bis zum
Tod, fein ausgehörte Klänge und einen beredten Ausdruck.
Mojca Erdmann und Peter Schöne waren wieder adäquate Interpreten.
Schließlich Jan Müller-Wieland: „Wallensteins Stern“
für Mezzosopran und Klavier, eine Textcollage nach einem Xenion
von Schiller und/oder Goethe sowie nach Worten aus „Wallenstein“
und „An die Freude“. Das Xenion dreht sich um Ich oder
Nicht-Ich, da sich die Autoren nicht mehr befragen lassen, komponiert
sich Wieland oder Müller eine witzige, griffige, fast surreal
wirkende Textcollage über Sterne, Soldat, Leben, Zeit, die
Welt des Gehirns, stürzende Mondsichel und das Wörtchen
„nie“, das die fulminante Mezzosopranistin Anne Carolyn
ein Dutzend Mal zu wiederholen hat.
Schiller intelligent in ein neues Kunstwerk verwandelt. Die nächste
Liederwerkstatt wird sich mit Heinrich Heine beschäftigen.