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nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 38
54. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Das verordnete Neue ging baden
Salzburg Passagen unter dem Motto Zweite Moderne
Ob einmal beim Appell zum letzten großen Gericht auch die
Modernen sich werden aufstellen müssen um abzuzählen:
erste Moderne, zweite, dritte…? So ist es natürlich nicht
und dennoch hat der Intendant der Salzburger Festspiele Peter Ruzicka
den vom Kultursoziologen Heinrich Klotz eingeführten Begriff
der Zweiten Moderne seiner Auswahl bei den Salzburg Passagen als
Motto mitgegeben. Eine Dritte Moderne wird es wohl nicht geben und
damit erübrigt sich auch im Grunde die Frage nach der Gestalt
der Ersten, womit freilich die Positionen der so genannten Avantgarde
nach 1950 gemeint sind. Die Zweite Moderne ist die Moderne danach,
es ist die eines Trotzdem. Sie richtet sich gegen den Begriff der
Postmoderne, auf deren Schlachtfeld in der Tat etliche kompositorische
Talente geopfert wurden.
Allein schon deshalb ist die Postmoderne, von der heute schon kaum
mehr jemand ernsthaft spricht, nicht marginal. Sie hatte ab den
70er-Jahren den Begriff des Fortschritts heftig angegriffen, hatte
das Ende der künstlerischen beziehungsweise musikalischen Möglichkeiten
proklamiert (mithin im Grunde das Ende der Kunst) und hatte als
einzige Möglichkeit die Flucht nach hinten ausgegeben. Es war
zudem eine falsche Flucht, denn die Verantwortung wurde unter der
Parole „anything goes“ abgegeben. Das Verstecken hinter
chamäleonhaft herbeizitierter Buntheit setzte jede musikalische
Aussage gewissermaßen in Anführungszeichen, in die Flüchtigkeit
des nicht wirklich so Gemeinten. Man wollte auf einem letzten großen
Maskenball die Reste der Kunst zu Grabe tragen und den Deckel mit
dem Aplomb einer über allem stehenden Ironie, eines großen
Weltgelächters verschrauben. Letztlich fesselte sie hiermit
jegliche künstlerische Tat, die noch Reste von Utopie, von
neuer Sicht auf die Dinge für sich in Anspruch nahm.
Der Begriff Zweite Moderne ist also ein emphatischer, einer des
Überlebens oder des Überstehens. Er soll freilich, so
Ruzicka, nicht die Restauration der alten Postulate aus der heroischen
Aufbruchszeit nach dem Zweiten Weltkrieg benennen, sondern eine
Moderne, die die Postmoderne im Hegel’schen Sinne aufhebt:
als Aufbewahrung und als Abschaffung. Auf musikalischem Gebiet ist
dies freilich schon längst vollzogen, oft ohne dass sich der
einzelne Künstler darüber theoretisch Rechenschaft ablegte.
Der Satz von Marx „Sie wissen es nicht, aber sie tun es“,
den Georg Lukács seiner Ästhetik voranstellte, hatte
auch hier seine Wirksamkeit bewiesen. So bekundete denn auch die
Auswahl der jungen und auch nicht mehr ganz jungen Komponisten,
die Ruzicka in Bezug zur Zweiten Moderne stellte, fast durchwegs,
dass dieser Begriff in ihrem schöpferischen Bewusstsein kaum
eine Rolle spielte. Am prägnantesten formulierte es vielleicht
Georg Friedrich Haas, der sein Wirken immer noch als Erste Moderne
begreift, die für ihn im 13. Jahrhundert mit den ersten zweistimmigen
Sätzen von Leoninus begann.
Hier manifestiert sich die Problematik solch einer begrifflichen,
aufs Ästhetische zielenden programmatischen Einfassung. Sie
wurde denn auch sinnlich in den Konzerten der Salzburg Passagen
erfahrbar. Da waren alte Kompositionen wie die vierte Sinfonie von
Charles Ives, das frühe und neu ausgegrabene, aus dem Jahr
1948 stammende Chor-Orchesterwerk „La nascita del verbo“
von Giacinto Scelsi und vielleicht auch noch Karlheinz Stockhausens
„Punkte“ von 1962. Diese Arbeiten sollten wohl Positionen
eines Moderne-Ansatzes, die gegen den Strom entwickelt wurden, in
unterschiedlichen Facetten beleuchten. Doch eher wurden von ihnen
die Fragezeichen vermehrt. Scelsis Chorkantate erwies sich als kühne
Mischung aus Radikalität und Orientierungslosigkeit, die bizarr
wie ein Wurzelwerk wirkte, das sich im reißenden Bach zwischen
zwei Felsen verklemmte und den Voransturz des Wassers grotesk konterkariert.
Und Stockhausens Frühwerk (das er freilich mehrfach überarbeitete),
wirkte in erster Linie in Bezug auf sein Entstehungsdatum interessant.
Für ein Kunstwerk aber ist es immer problematisch, wenn man
zu seiner Wertung vornehmlich den frühen, also außergewöhnlichen
Zeitpunkt seiner Konzeption benennt, ohne dass in ihm selbst das
Widerständige dieser Tat aufbewahrt ist. Ives schließlich,
fraglos faszinierend vom SWR-Orchester unter Lothar Zagrosek gespielt,
wird in letzter Zeit wohl allzusehr zum Vorzeigeobjekt einer visionär
vorzeigenden Tat vom Beginn des 20. Jahrhunderts degradiert.
Es war nicht die Postmoderne, die die nachhaltigste Kritik an
der alten Avantgarde formulierte, es war das ihr vorausgegangene
Unbehagen der damals jungen Komponisten. Hier wurden Argumente der
theoretischen Überfrachtung ins Feld geführt, vor allem
aber Züge von mangelnder Tiefenschärfe und klanglicher
Egalität in den komplexen Strukturen festgemacht. Und es steht
zu befürchten, das war in einigen Arbeiten in den Konzerten
zu konstatieren, dass mit der emphatischen Manifestation der wiedererlangten
Moderne auch diese Momente wieder aus den Unterständen hervortreten.
Komplexes Komponieren ist nämlich auch ein fragwürdiger
Schutzwall, hinter dem gefahrlos der Anschein des Frontkämpfers
proklamiert werden kann, ohne dass das Rüstzeug dafür
vorliegt (in der Postmoderne rutschten Ansätze mit wenig technischem
und sensuellem Background schnell in die ridiküle Belanglosigkeit,
das aber verhindert der moderne oder auch zweitmoderne Anspruch
per Rezept). Das für Salzburger Verhältnisse ausgesprochen
spärliche Publikum zeigte sich zu Recht hilf- und orientierungslos.
So geriet der demonstrative Aufbruch fadenscheinig – und
Ruzicka versteht den Ort der Salzburger Festspiele durchaus nicht
nur als Spielstätte, sondern als Wegweiser an prominenter Stelle.
Mit Arbeiten des aus seiner Natur heraus komplexen, damit stimmig
identischen Brian Ferneyhough (Jahrgang 1943) und von der fanatisch
Aufrichtigkeit suchenden jüdischen Komponistin Chaya Czernowin
(1957) wurden Eckpfeiler ins Programm gesetzt, sie wurden gewissermaßen
als Wegweiser installiert – ein Auftrag, dem zumindest Czernowin
nicht durchgängig Stand zu halten wusste.
Daneben standen jüngere Komponisten, bei denen immer wieder
die Gefahr des Gefahrlosen, die die Moderne-Konzeption impliziert,
wahrzunehmen war. Auszunehmen wären in erster Linie Mark André
(1964) mit seinem neuen Stück „…zum staub sollst
du zurückkehren“, dessen quälend suchender Weg nach
stiller Wahrheit und Schönheit ohne jegliche schützende
Umhausung nachdrücklich fortgesetzt wurde, und dann Enno Poppe
(1969), dem es immer wieder gelingt, seine lapidaren Werkstitel
wie „Öl“ oder „Salz“ mit einer ebenso
dichten wie zwingenden Klangvision zu umfrieden und im konsequenten
Spürgang packend auszutragen. Uraufgeführte Arbeiten wie
„heftige landschaften mit 16 bäumen“ von Philipp
Maintz, „Fehlstart“ von Sebastian Claren aber auch das
Klavierkonzert „Prospero’s Epilogue“ des die Zweite
Moderne beredt propagierenden Claus-Steffen Mahnkopf bewegten sich
hingegen zumeist in Regionen der Proklamation, deren schlüssige
Einlösung ausblieb. Das Gespenst eines modernistischen Mainstreams,
der Moderne einklagt ohne sie letztlich nachdrücklich einzulösen,
stand immer wieder über den Salzburg Passagen. Wohl ist Moderne
etwas, das man nicht verordnen kann. Denn wird die Verordnung angenommen,
bleibt man ohnehin hinter der Moderne, die längst anderswo
wohnt, zurück.