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nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 38-39
54. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Bach im boomenden Bergdorf
Das Verbier-Festival wächst auch in seinem zwölften
Jahr
Verbier wächst und wächst. Entsprechend dem Bauboom
in dem schweizerischen Bergdorf, dessen Hänge sich immer dichter
mit Chalets füllen, hat sich auch das Konzertangebot ausgeweitet.
Um der wachsenden Nachfrage zu begegnen, gibt es bei diesem 1994
begründeten Festival seit diesem Sommer allabendlich zwei Konzerte.
Man darf nun zwischen Kirche und Konzertzelt wählen: Will man
beispielsweise Schumanns „Dichterliebe“ mit Thomas Quasthoff
hören oder lieber Vivaldis „Vier Jahreszeiten“
mit Salvatore Accardos Kammerorchester? Viele entschieden sich an
diesem Abend für Quasthoff. Nach einer umjubelten „Winterreise“
im Vorjahr, mit James Levine am Klavier, hatte er erst wenige Tage
zuvor, begleitet von Evgeny Kissin, erneut Schubert-Lieder gesungen.
Bei der „Dichterliebe“ folgte Elena Bashkirova, die
für Martha Argerich eingesprungen war, den starken Impulsen
des Sängers. Dabei stellte dieser mit oft gedehnten Tempi die
tragische Seite der Heine-Gedichte in den Vordergrund, die Verzweiflung
in „Ich grolle nicht“ oder die tiefe Melancholie in
„Ich hab im Traum geweinet“. Die trotzige Entschiedenheit,
mit der Quasthoff sich im Schlusslied („Die alten bösen
Lieder“) von dieser schweren Last befreite, wirkte so bewegend,
als spräche er von eigenen Erfahrungen. Auch die enthusiastische
Wiedergabe der „Vier ernsten Gesänge“ von Brahms,
die er einer Freundin zudachte, gefolgt von schwungvollen Zugaben
wie Schumanns „Widmung“ oder „Swing Low, Sweet
Chariot“, bestätigte den oft autobiographischen Charakter
seines Musizierens.
Thomas Quasthoff liebt sein Publikum und dieses ihn. Das zeigte
sich auch an seiner regelmäßig überfüllten
Meisterklasse, die sich mindestens so sehr an die Zuhörer richtete
wie an die aktiven Teilnehmer. Lieder sind für Quasthoff nicht
Vehikel für in ihre Stimme verliebte „Kammersänger“,
sondern kleine Dramen, Mitteilungen ans Publikum.
Das genaue Textverständnis wird vorausgesetzt. Jeder Sänger
und jede Sängerin musste deshalb jeweils den Inhalt des nachfolgenden
Liedes erläutern. Dabei verzichtete der Lehrer nicht auf Strenge
(„I’m the boss“) oder darstellerische Drastik,
etwa beim lauten Eselsruf im Wunderhorn-Lied „Lob des hohen
Verstands“. Fast so wichtig wie die Stimme sind ihm die Körpersprache
und die Augen, „das Ausdruckszentrum des Liedersängers“.
Schon vor dem ersten Ton müssen diese der dramatischen Situation
entsprechen und in die richtige Richtung gehen.
Das gleichberechtigte Nebeneinander von Konzerten und Meisterklassen
gehört zu den Charakteristika von Verbier. Man nimmt sich hier
Zeit für Musik, beobachtet die Entwicklung junger Talente und
schult dabei das eigene Musikverstehen. Für den stark vertretenen
Geigernachwuchs (unter ihnen auffallend viele Chinesinnen) war die
Meisterklasse von Zakhar Bron besonders attraktiv. Anders als die
übrigen Lehrer sprach der berühmte Pädagoge allerdings
nicht Englisch, was die Kommunikation erschwerte. Geigerische Sternstunden
erlebte man in den Konzerten, so bei klangschönen Werken von
Dvorák, Schostakowitsch und Hellmesberger mit Ilya Gringolts,
Janine Jansen, Leonidas Kavakos, Julian Rachlin, Dmitri Sitkovetsky,
Nikolaj Znaider, Yuri Bashmet und Lynn Harrell.
Brahms und Schubert sind seit 1994 die hier meistgespielten Komponisten.
Im zwölften Jahr stand Johann Sebastian Bach im Zentrum, ohne
dass Verbier schon dadurch zu einem zweiten Prades wurde. Mehr noch
als die drei Cellosuiten mit Jian Wang bewegten und begeisterten
die ebenso spielerischen wie intelligenten Interpretationen der
zweistimmigen Inventionen und der Goldberg-Variationen durch den
25-jährigen Martin Stadtfeld, der im Vorjahr für Martha
Argerich eingesprungen war. Die blutjunge Alina Ibragimova war beim
d-Moll-Doppelkonzert eine sichere Partnerin Gidon Kremers. Den sensiblen
Perkussionisten Andrei Pushkarev, Mitglied der Kremerata Baltica,
hatten die Inventionen zu swingenden Versionen im Stil von Bill
Evans, Oscar Peterson oder Herbie Hancock angeregt.
Trotz des Bach-Schwerpunkts, des Verdi-Requiems (dirigiert von
James Levine) und des Beethoven-Sonatenzyklus (gespielt von Garrick
Ohlsson) dominierte leichter verdauliche Kost wie etwa ein hochkarätig
besetzter „Karneval der Tiere“ von Saint-Saëns
(mit Lynn Harrell als Erzähler), die „Folk Songs“
von Berio (charmant gesungen von der wandlungsfähigen Malena
Ernman), das ästhetisch zwielichtige „Twilight“
von Kantscheli (mit Gidon Kremer und Yuri Bashmet) oder eine feurige
Hommage à Astor Piazzolla (mit Kremer und Freunden). Bashmet,
Harrell, Kissin, Kremer, Maisky, Quasthoff und Sitkovetsky kommen
regelmäßig nach Verbier. Ein Überraschungsgast war
dagegen der junge Venezolaner Gustavo Dudamel, der anstelle von
Esa-Pekka Salonen ein Konzert des Festival-Orchesters leitete. Schon
mit dem ersten Stück, „Sensemaya“ von Silvestre
Revueltas, schlug er die jungen Musiker und das Publikum in seinen
Bann. Eminenten Sinn für Rhythmus und klangliche Transparenz
bewies Dudamel abschließend auch bei Strawinskys „Feuervogel“.
Vielleicht aus Respekt vor der im Publikum anwesenden Dirigierprominenz,
darunter Michael Tilson Thomas und James Levine, zeigte er sich
abschließend nur noch kurz auf dem Podium. Man wird diesen
hochbefähigten Dirigenten ohnehin bald in anderen Konzertsälen
erleben können.
Zu den Qualitäten des Festivals gehören sein Werkstattcharakter
und die Nähe zwischen Künstlern und Publikum. Kurzfristige
Programmänderungen nimmt man in Kauf, kann man doch von morgens
bis abends unterschiedliche Musik an vielen Orten, am Marktplatz,
an Berghängen oder in Hotelfoyers, hören. Für Martin
Engstroem, den Initiator und Gründer des Festivals, bildete
Aspen ein Vorbild. Kommunikation ist ihm wichtiger als Repräsentation,
weshalb er weiterhin leger im Pullover zu den Konzerten erscheint.
Es dominiert ein freundschaftlich-familiärer Ton, der sich
auch an der Häufigkeit zeigt, mit der die Künstler sich
auf der Bühne umarmen. Nebenbei kommt es zu überraschenden
Begegnungen, wenn man etwa erfährt, dass die neben einem sitzende
Dame einmal ein berühmter Hollywood-Star war. Die Begegnung
mit Musik steht für alle im Mittelpunkt, nicht Glamour oder
die Werbung, die zum Glück wieder aus dem Konzertzelt verschwand.
Wie der Ort sollte sich allerdings auch das Festival Grenzen des
Wachstums setzen, um seinen Charakter nicht zu gefährden.