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nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 29
54. Jahrgang | Oktober
Deutscher
Tonkünstler Verband
Komponierte Konzertprogramme
Sommerliche Musiktage Hitzacker unternehmen eine Reise durch
den „Kosmos Streichquartett“
Dass es beim Komponieren von Kammermusik darum gehe, dem Material
„feinste Nuancen abzulauschen“, stellt Jörg Widmann
in einem der Gespräche fest, die in dem kürzlich erschienenen
Buch „Im Sog der Klänge“ (Mainz 2005) festgehalten
sind. Spricht Widmann zunächst mit Blick auf das eigene Werk,
so benennt er auch ein, wenn nicht das zentrale Charakteristikum
der Kammermusik. Die Gattung, die diese Aufmerksamkeit für
die feinsten Nuancen kompositorisch auf die Spitze treibt, das Streichquartett,
hatten die 60. Sommerlichen Musiktage Hitzacker in den Mittelpunkt
ihres Programms gestellt – passend zum Jubiläum eines
Festivals, das seit seiner Gründung 1946 der Kammermusik verpflichtet
war und ist. „Kosmos Streichquartett – Große Welt
im Kleinen“ hieß das Thema des Festivals in dem niedersächsischen
Elbstädtchen, dessen Programm seit 2002 der Hamburger Musikwissenschaftler
Dr. Markus Fein gestaltet. Jörg Widmann, dessen zweites von
bisher fünf Streichquartetten, das „Choral-Quartett“,
2003 in Hitzacker uraufgeführt worden war, war in diesem Jahr
Composer in residence.
Große Welt im Kleinen“ – das ist ein Motto, das
auch die Sommerlichen Musiktage Hitzacker selbst beschreibt. Seit
vielen Jahren steht das Festival am Rande des heutigen, event-geprägten
Musikbetriebs – was es durchaus sympathisch macht. „Gediegenheit“,
der es um die „verantwortliche, präzise, um den Effekt
unbekümmerte Wiedergabe“ geht, so hat Theodor W. Adorno
in anderem Kontext eine Haltung beschrieben, die auch die Sommerlichen
Musiktage geprägt hat. Nicht ohne hinzuzufügen, dass die
„Kraft der Phantasie“, die „die Musik erst aufschließt“,
Gefahr laufe, eben jener Gediegenheit zum Opfer zu fallen. Dass
dies spätestens ab Mitte der 70er-Jahre auch bei den Sommerlichen
Musiktagen geschah, wurde anhand der beiden Konzerte zum 60. Bestehen
des Musikfestes deutlich. Neben anderen waren zwei frühere
Festival-Leiter, die Cellisten Wolfgang Boettcher (1987 bis 1992)
und Claus Kanngiesser (1993 bis 2001) zu hören; was immer,
durchaus Positives, zu ihren Interpretationen gesagt werden könnte,
verblasst angesichts eines recht populistischen Programms, das unter
dem Titel „Kammermusikalisches Potpourri“ genau das
bot und selbst einem Auftritt des TV-Adelsexperten Rolf Seelmann-Eggebert
nicht entsagte. Zum Glück ein Ausrutscher.
Fruchtbare Ansätze zur Reflexion der Geschichte des Festivals
fanden sich in den übrigen Konzerten. Einer der Fäden,
anhand derer sie möglich wurde, begann im Eröffnungskonzert,
das das Modern String Quartet aus München mit einer trotz einiger
Probleme mit der Klangbalance zwischen Zuspielband und Ensemble
formidablen Interpretation von Steve Reichs „Different Trains“
beschloss. Reichs Werk thematisiert die Shoah, die Sistierung der
humanistischen Ideale, wie der Nationalsozialismus sie radikal vornahm.
Darin war das Werk – für die, die das wissen wollten
– auch Hinweis auf die Zeit der Barbarei, die der Gründung
der Sommerlichen Musiktage unmittelbar vorausging und die das Festival
in der Vergangenheit mit einer von Boettcher eingerichteten Reihe
mit Musik verfemter Komponisten thematisiert hatte. Jörg Widmanns
„Jagdquartett“, von dem das norwegische Vertavo Quartett
(eines der wenigen rein weiblichen Ensembles in diesem Bereich)
eine stupende Version spielte, zielt auf ein Ähnliches, ist
aber in seiner Darstellung der Ausgrenzung eines Einzelnen wesentlich
konkreter als die abstrahierende Weise, in der Reich die letztlich
unfassbare Shoah treffend thematisiert. George Crumbs „Black
Angels“ (hochkonzentrierte Subtilität prägte die
Interpretation des Minguet Quartetts) setzte das Thema ebenfalls
fort.
Die drei Werke gehörten auch zu denen, anhand derer das Festival
die Gattung Streichquartett als „der Zeit voraus“, als
ein „Laboratorium der Moderne“ (so ein Konzerttitel)
präsentierte. Mehrfach gelang es in dezidierter Weise, Neues,
Experimentelles und Rätselhaftes zu erschließen, das
Kompositionen zur Zeit ihrer Entstehung innewohnte. So etwa durch
das extreme Gespür für das Changieren der Farben, das
das Auryn Quartett bei Debussys Streichquartett bewies, oder durch
die leise-reflektierte Spielweise, mit der das Vogler Quartett die
harmonischen Grenzgänge von Schuberts B-Dur-Quartett op. 112
deutlich werden ließ. Auch dem Vertavo Quartett gelang es
mehrfach, irritierende Elemente der Musik der Vergangenheit als
„von Jetztzeit erfüllte“ (Walter Benjamin) kenntlich
zu machen. Etwa mit einer Interpretation von Bartóks viertem
Quartett, das die Norwegerinnen im Licht von Ligetis Quartetten
quasi spiegelten, ebenso mit einer, von einer schier aufstörenden
Kultur des Piano geprägten, Aufführung von Schumanns Streichquartett
As-Dur op. 41 Nr. 3.
Robert Schumann gehört sicher zu denen, die der Composer in
residence der 60. Sommerlichen Musiktage mit dem Satz „die
Tradition sitzt mir im Nacken“ meint: Zitate aus Stücken
Schumanns verarbeitet Widmann im „Jagdquartett“ oder
in der „Fieberphantasie“. Auch in anderen Werken ist
der Bezug auf Gesten und Formen der Tradition immer wieder Fluchtpunkt:
Entweder negativ, wie im ersten Streichquartett, dessen tastend-vergebliche,
in einem tonalen Strohfeuer endenden Versuche, die Vergangenheit
abzuschütteln, das Kuss Quartett feinfühlig realisierte.
Oder positiv, wie im vierten Quartett, dem fast swingenden „Andante“,
das im Titel den (auch fragenden) Bezug explizit macht; das Vogler
Quartett spielte diesen pointiert heraus. Und immer wieder wird
in Widmanns Musik eine gewisse Seelenverwandtschaft mit Schumann
deutlich, etwa in der Begegnung von dessen „Gesängen
der Frühe“ op. 133 mit Widmanns „Nachtstück“
und seinem surrealen „Arlechino Rabbioso für selbstspielende
Jahrmarktorgel“, die das Festival unter dem Titel „Nachtgesänge“
in einem Konzert mit „komponiertem Programm“ zusammenbrachte.
Auch Musik Messiaens, Kurtágs, Bergs und Bruchs wurden darin
als Bezugspunkte Widmann’schen Schaffens kenntlich.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgte die Reihe „Grenzgänge“,
die in drei Veranstaltungen des Festivalprogramms Begegnungen des
Streichquartetts mit anderen Kunstformen – Ballett, Literatur,
Film – brachte. Solche Programme wie auch die durchdachte
Dramaturgie des Festivals haben den Sommerlichen Musiktagen vermehrte
Aufmerksamkeit und seit 2004, erstmals seit vielen Jahren, steigende
Besucherzahlen verschafft. Aufbauen kann das Festival bei der Absicht,
die „Kraft der Phantasie“ wieder in ihr Recht zu setzen,
auf seiner eingangs erwähnten Randposition im Kulturbetrieb,
auch wenn diese eher ungewollt bezogen wurde. Hat sie doch eine
gewisse Intimität erhalten, eine Intimität, die Voraussetzungen
für enge Kontakte zur Musik, unter den Gästen, unter den
Musikern und zwischen beiden ist. Auf dieser Intimität bauen
Projekte wie die Hörer-Akademie auf; sie ergänzt die Begegnungen
mit der Musik im Konzert durch (musik-)historische und theoretische
Hintergründe. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt die Jugend-Akademie;
zum vierten Mal waren in diesem Jahr rund 20 „Festival-Fellows“
im Alter von 13 bis 18 Jahren Stipendiaten der Sommerlichen Musiktage.